Die schoene Frau Seidenman
hatte, die aussichtslos war. Nicht seine eigene Zukunft bedrückte ihn, sondern die Zukunft des Landes, mit dem er alle Hoffnungen seiner Jugendzeit und seines reifen Alters verbunden hatte. Sein eigenes Schicksal erschien ihm plötzlich der Beachtung nicht wert. Und er irrte sich nicht. Die Vorsehung sollte sich ihm gegenüber als recht gnädig erweisen. Im Herbst 1944 befand er sich in den Ruinen der Stadt. Immer lauter vernahm er das Dröhnen russischer Geschütze auf dem anderen Weichselufer und fürchtete sich unbeschreiblich vor jenen, die wieder wie vor dreißig Jahren mit heuchlerischem Lächeln zu ihm sagen würden: ›Nun ja, Iwan Iwanowitsch, da sind wir zurückgekehrt in unser altes Haus…‹ Er glaubte keinen Augenblick lang an die Umformung der russischen Seele, an den russischen Kommunismus, an die revolutionäre Gestalt Rußlands. Der Kommunismus war für ihn fremd, ja sogar abstoßend, denn erstens fehlte ihm – so dachte er als Sozialist – jeder Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung, wie er sie aus seiner Jugend kannte, liebte und verehrte, und zweitens war dieser Kommunismus vom russischen Geist infiziert, er war vor allem Rußland, das tyrannische, düstere und ungebändigte Rußland mit seinem asiatischen Verhältnis zum Menschen, seinem untertänigen Verhältnis zur Welt, seiner geheimnisvollen Melancholie und Grausamkeit.
Müller verließ Warschau und Polen, nicht weil er sich als Deutscher mit dem Deutschen Reich Adolf Hitlers verbunden fühlte, sondern getrieben von der blinden Angst vor den Moskowitern, Sibirien, der Knute, der Unfreiheit. Er durchlebte und durchlitt noch viel – ein alter, aller Illusionen beraubter Mann, ein in fremde Landschaften geworfener Schiffbrüchiger ohne Vaterland. In Lodz ließ er die Gräber seiner deutschen Eltern, aber auch seiner polnischen und jüdischen Genossen zurück. Er war umso einsamer, als er keine Gemeinschaft mit anderen Deutschen fand, die in dieser Völkerwanderung ihr Heim verließen und sich schließlich in Bayern ansiedelten. Die Völkerwanderung ergab sich aus der neuen, die Staatsgrenzen wie Möbel in einer Wohnung verschiebenden Einteilung Europas. Diese Menschen hielten sich für Vertriebene aus ihrer Heimat, sie fühlten sich weiter als Deutsche, was Müller bis zum Ende seiner Tage nicht akzeptierte, weil er sich selbst weiterhin zum Teil als Deutscher und zum Teil als Pole fühlte. Seine deutschen Landsleute bemitleidete er manchmal, vergab ihnen aber nicht und hielt sie nicht für Opfer des geschichtlichen Ablaufs, sondern für Menschen, die für Hitler und das ganze Unheil, das im Gefolge des Krieges über Europa hereingebrochen, mitverantwortlich waren. Er lebte einsam, nach den ersten Notjahren ohne materielle Sorgen, aber schweigsam und unverstanden, mit dem Kopf immer Polen zugewandt, dessen neue Leiden ihn mit Kummer erfüllten. Er fühlte sich ratlos und vom Lauf der Geschehnisse verhöhnt, ein Wrack, das fern seinem Heimathafen auf einer Sandbank festsitzt. Die Polen, mit denen er nach dem Kriege in Berührung kam, kannten ihn nicht und verhielten sich deshalb weder offenherzig noch gar freundschaftlich. Es kamen Nächte, in denen Müller sich innig wünschte, zu seinem Deutschtum zurückzukehren, in ihm Trost und Linderung zu finden. Dann versammelte er in seiner Vorstellung emsig alle polnischen Unzulänglichkeiten und Fehler, Sünden und Dummheiten. Er hätte eine lange Liste aufstellen können – wie jeder Mensch, der dieses Polen tief im Herzen liebt. Und gerade darum fühlte er sich, seinem eigenen Wollen entgegen, immer intensiver als polnischer Patriot, weil er die polnischen Schwächen kannte, all diese polnischen Unvollkommenheiten, Zerrissenheiten, Idiotismen, Verworrenheiten, diese polnischen Snobismen und Schwindeleien, die Fremdenfeindschaft, die Hirngespinste und Mythen. Er kannte sie besser als die echten Polen, weil seinen Geist stets eine ganz dünne Scheidewand von Polen getrennt hatte, ein aus den Genen der deutschen Tradition seines Vaters und Großvaters gewobenes Spinnennetz. Er zählte die polnischen Sünden auf, um sich, wie er glaubte, vom Polentum zu entfernen, um es sich zu verleiden, um zwischen sich und Polen einen unüberwindlichen Abgrund zu graben, um sich desto leichter auf dem genetischen Boden des Deutschtums wiederzufinden. Doch verwarf er bald diese Prozedur, weil er merkte, daß sie fruchtlos war. Je kritischer Müller Polen gegenüber wurde, desto heftiger sehnte er sich nach ihm,
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