Die schoene Frau Seidenman
aus dieser Razzia herausgekommen, Herr Doktor?« fragte ein Bekannter, Zeuge des Geschehnisses.
»Aus welcher Razzia? Ach ja, diese Geschichte. Ich weiß nicht, wirklich. Ich war in Gedanken.«
Er mied die Menschen und zwangsläufig auch den Krieg, den sie entfesselt hatten. Ihn interessierten die hieratischen, stolzen und ohne einen Blutstropfen aus dem Stein gehauenen Kriege der Antike. Darin fand er eine moralische Ordnung, die es im realen Leben nicht gab. Deshalb kümmerte er sich nicht um das reale Leben.
Seine Nachbarin hinter der Wand mochte er gern. Eine sehr schöne, ruhige Frau und Offizierswitwe. Von seinen Besuchen bei entfernten Verwandten, nahe Lublin brachte er manchmal Gläser voll Marmelade und Flaschen voll Obstsaft mit. Hin und wieder erlaubte er sich, Frau Gostomska ein Glas Marmelade zu schenken. Sie dankte mit bezauberndem Lächeln und revanchierte sich mit einem kleinen Päckchen Tee, was keine geringe Geste darstellte. Manchmal suchte er Frau Gostomska auf, sie verfügte über großen weiblichen Zauber und interessierte sich für die Antike. Nie war er bisher einer so stillen, wortkargen, konzentrierten Person begegnet. Er dankte dem Schicksal, weil es ihn mit Frau Gostomska in Berührung gebracht hatte. Plötzlich aber stellte sich heraus, daß sie in Schwierigkeiten geraten war. Man hatte sie jüdischer Herkunft verdächtigt und bei der Gestapo festgehalten. Ihr drohte der Tod.
Zum ersten Mal stieß Dr. Korda unmittelbar mit der Todesgefahr zusammen. Noch gestern hatte Frau Gostomska seinen Gruß mit einem Lächeln erwidert, und morgen würde sie, von der Gestapo zu Tode gequält, nicht mehr leben. Frau Gostomska verließ sich auf Dr. Kordas Hilfe. Sie übermittelte ihm eine Nachricht. Er blieb nicht untätig, sondern wurde sofort aktiv. Doch große Hoffnungen machte er sich nicht. Was konnte dieser junge Mann, Herr Paweł Kryński, der einzige gemeinsame Bekannte, schon tun? Was konnte er tun, wenn der Wahrheit entsprach, was die Leute über die Gestapo und die Schuch-Allee erzählten? Und sie erzählten keine aus den Fingern gesogenen Geschichten, denn es fand ein grausamer Krieg statt, Dr. Korda hatte von Torturen, Exekutionen und Konzentrationslagern gehört. Saß sein Bekannter, der klassische Philologe Dr. Antoni Kamiński nicht in Auschwitz? Dr. Korda schickte regelmäßig Lebensmittelpäckchen ins Lager. Er versagte sich vieles, um die Päckchen für den klassischen Philologen Kamiński absenden zu können. Was konnte der junge Mann tun, um Frau Gostomska zu retten? Dr. Korda suchte in seiner Erinnerung fieberhaft nach Menschen, die behilflich sein könnten. Doch er hatte wenig Bekannte und keine Freunde. Zum ersten Mal im Leben belastete ihn seine Einsamkeit, die Lebensweise eines Sonderlings. Es hing soviel von anderen Menschen ab, ohne deren Gefälligkeit und Bemühung Frau Gostomska unrettbar verloren wäre. Sie ist bestimmt keine Jüdin. Ein geradezu lächerlicher Verdacht. Ohne die sehr hellen Haare sähe Frau Gostomska wie eine Diana aus. Hat das eine Bedeutung für die Menschen von der SchuchAllee? Jüdin oder Nichtjüdin? Es ging doch nicht nur um die Juden!
Er stand am Verandafenster und schaute wachsam auf die Straße hinaus. Das war ein guter Beobachtungspunkt. Falls Frau Gostomska zurückkehrte, würde er sie bestimmt bemerken. Er stand dort in Pumphosen und Schnürschuhen, nicht groß, fast kahlköpfig, reglos, eine schmerzliche Unruhe im Herzen. Er fühlte sich ratlos und schwach. Jetzt dachte er nicht an den Gallischen Krieg, sondern an den draußen vor dem Fenster. Als der Abend herabsank, schaltete er das Licht nicht ein. Er schob sich einen Stuhl nahe ans Fenster, setzte sich und schaute in die Dunkelheit. Erst um Mitternacht begriff er, daß Frau Gostomskas Rückkehr zu dieser Stunde nicht mehr möglich war. Da zog er das Verdunkelungsrollo und die Gardinen vor und ging zu Bett. Gegen Morgen schlief er ein, wachte aber beinahe sofort wieder auf und bezog erneut den Posten am Fenster. Er hatte einen vollen Tag des Wartens vor sich. Und eine riesengroße Einsamkeit, denn die antiken Geister verließen ihn. Zeitweilig schlummerte er ein, die Stirn auf das Fensterbrett gelegt. Erstarrt wachte er auf. Hatte er Frau Gostomskas Rückkehr übersehen? Er horchte angespannt auf Laute jenseits der Wand. Dort herrschte Stille.
Die Stunden schlichen auf Zehenspitzen hinter seinem Rücken vorbei. Es war ein Frühlingstag voller Sonne und Vogelgezwitscher. Am
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