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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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knarrte. Er vernahm den Lärm ein Stockwerk tiefer. Er wußte, es würde nicht lange dauern, denn in der Wohnung unten befand sich seit einigen Tagen niemand mehr.
    Er saß also reglos.
    »Setz den Hut auf«, sagte eine Stimme.
    Der Rechtsanwalt Fichtelbaum fuhr zusammen.
      »Setz den Hut auf. Ein frommer Jude hat einen Hut auf dem Kopf«, sagte die Stimme.
      Ich bin nicht mehr ganz bei Sinnen, dachte der Rechtsanwalt. Was ist das für eine Stimme? Höre ich die Stimme Gottes?
    Aber es war noch nicht Gott, sondern der Vater des Rechtsanwaltes Fichtelbaum, Herr Maurycy Fichtelbaum, gestorben zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er sprach jetzt aus dem 19. Jahrhundert, als er noch lebte. Der Rechtsanwalt Fichtelbaum erblickte seinen Vater in einem hübschen, geräumigen Zimmer, dessen Fenster auf den Garten hinausgingen. Hinter dem Garten erstreckten sich Gerstenfelder, am Horizont sah man die dunkle Linie des Waldes. Maurycy Fichtelbaum stand nicht weit vom Fenster, mit dem schönen schwarzen Bart, der ihm auf die Brust herabhing, und dem grauen Hut auf dem Kopf. Er war ein sehr gut aussehender Mann, trug einen Gehrock aus dunklem Tuch und dunkle Hosen. Der dicke silberne Anhänger seiner Taschenuhr blinkte in Höhe seiner Taille, und dicht unter dem Bart baumelte an einem Kettchen die Brille.
      »Setz den Hut auf«, sagte Maurycy Fichtelbaum zu seinem Sohn. »Wenigstens das kannst du vor dem Tode für mich tun.«
      Und er nahm seinen Hut vom Kopf und reichte ihn seinem Sohn.
      »Und du, Vater?« fragte der Rechtsanwalt Fichtelbaum sehr leise. »Jetzt bist du ohne Hut.«
    »Ich brauche ihn nicht mehr«, entgegnete sein Vater.
    Der Rechtsanwalt Fichtelbaum erinnerte sich, daß sein Vater diesen Hut im 19. Jahrhundert in Wien gekauft hatte, wohin er sich mit dem Rabbiner Majzels zu einer Konferenz jüdischer Wohltätigkeits-Gesellschaften begeben hatte. Nach Haus zurückgekehrt, hatte Maurycy Fichtelbaum seinem kleinen Sohn den Hut gezeigt, und der Rechtsanwalt erinnerte sich, daß sich auf dem ledernen Schweißband das Zeichen einer berühmten Hutfirma von der Kärntnerstraße befunden hatte. Er konnte sich jedoch an den Namen der Firma nicht erinnern, sondern erkannte nur aus der großen Entfernung, die ihn vom 19. Jahrhundert trennte, die ovale Inschrift auf dem Schweißband, die den ›K. u. K.‹ Hoflieferanten anzeigte.
    Der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum zuckte mit den Achseln.
      Was haben die schon dem Kaiser für Hüte geliefert, dachte er skeptisch, wo doch der Kaiser immer in Militäruniform ging. Er ist vermutlich in Uniform schlafen gegangen.
    Gerade in diesem Augenblick verbreiterte sich der Spalt, und auf der Türschwelle erschien ein Stiefel. Im selben Augenblick geschah ein kleines, aber nützliches Wunder. Der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum hob die Augen und erblickte auf dem Pistolenlauf den lieben, heiteren Sonnenschein, der durch die zum Garten, zum Gerstenfeld und zum fernen Wald hinausschauenden Fenster in das große Zimmer fiel. Am Fenster stand sein Vater, mit dem Hut der kaiserlichen Hoflieferanten, dem Uhranhänger in Taillenhöhe und der am Kettchen baumelnden Brille unter dem breiten, dunklen Bart. Der Vater hielt den Rechtsanwalt bei der Hand, und der Rechtsanwalt hatte auch einen Hut auf dem Kopf und einen schwarzen, schönen Bart, der ihm auf die Brust hinabhing, obwohl er noch ein kleiner Junge war.

15
    E r stand am Verandafenster und schaute wachsam auf die Straße hinaus. Er war nicht groß, fast kahlköpfig, zart. Seine Gestalt kontrastierte mit seinen Gesichtszügen, die wie kräftig gemeißelt wirkten, als hätte Gott zornig und ungeduldig gearbeitet. Es war ein bäuerliches Gesicht aus alten Gemälden von  Kotsis  oder  Chełmoński , wo Kraft sich mit Stumpfsinn verbindet. Er stand am Verandafenster, schaute wachsam auf die Straße vor dem Haus und spürte einen Schmerz im Herzen. So lange, so unglaublich lange war es ihm gelungen, fern vom Fluß der Ereignisse am trockenen Ufer zu bleiben. Er war nicht feige, sondern einfach weniger interessiert. Erst nach Jahren sollte sich herausstellen, daß alle ohne Ausnahme interessiert gewesen waren. In Wirklichkeit gehörte er zu der zahlreichen Gruppe von Menschen, die den Verlust der Unabhängigkeit mit Bedauern hinnahmen, die Okkupanten mit Abscheu beobachteten, die entfesselte Grausamkeit der Welt voller Angst erfuhren, aber ihre eigene Existenz am Rande ansiedelten, beschäftigt mit den Sorgen des Alltags oder –

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