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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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wie er – mit dem inneren Leben, das sich desto weiter entfernt abspielte, je böser und unmenschlicher die gewöhnlichen Ereignisse wurden. In der Vergangenheit hatte er unter Schatten gelebt, in Freundschaft und Versöhnlichkeit. Er war nicht nur von Beruf und Neigung klassischer Philologe. Latein und Griechisch hatten aus ihm einen Menschen gemacht, der nicht in dieser Welt lebte. Damals war das noch möglich gewesen. Er lebte einsam, umgeben von der angenehmen, kultivierten Gesellschaft der Klassiker. Er unternahm Spaziergänge mit Thukydides, Tacitus oder Xenophon unter dem Arm. Er aß mit Sophokles und Seneca. Lebendige Menschen erkannte er mühsam, Kontakt mit ihnen pflegte er nur der Form halber, weil sie zwar für das Leben notwendig, aber uninteressant und lautstark waren. Er genoß den Ruf des Zerstreuten. Es kreisten Anekdoten über ihn, die er nicht einmal kannte, weil er für seine Umgebung keinen Partner bedeutete, sondern nur einen Gesprächsgegenstand.
    Er stammte aus einem Dorf bei Kielce, wo seine Eltern und Vorfahren für ein Dach über dem Kopf und ein Stück Brot Lohnarbeit angenommen hatten. An seine Mutter erinnerte er sich überhaupt nicht, an seinen Vater ohne Liebe als an einen Menschen mit furchtbaren Zornesausbrüchen, einer Wut, die aus dem Unglück resultierte. Im Alter von zehn Jahren hatte er Vater und Geschwister verlassen und war in die Welt einsamer Armut hinausgezogen. Doch hegte er im Herzen Haß gegen Armut und Erniedrigung, gegen das idyllische Dorf, die Weiden und Haselsträucher, die Schollen umgepflügter Erde, die Rauchfahnen über den Feuerstätten, die Bäuerlichkeit, die Schimpfwörter, die allgemeine Verhöhnung. Aus solchen wie er entwickelten sich Empörer oder einsame, in sich konzentrierte Einzelgänger. Vor ihm lag die Wahl: soziale Revolution oder Flucht aus der schlecht eingerichteten Welt. Über Leute wie ihn hatten die Positivisten ihre Poeme geschrieben. Auch Żeromski. Er arbeitete auf dem Bau, am Brunnen, bei den Pferden. Er hungerte und litt. Und lernte mit bäuerlicher Hartnäckigkeit. Für Holzhacker- und Wasserträgerdienste wohnte er in Schlafstellen und Kammern. Für Geschirrwäscher- und Aufwischerdienste aß er in den Garküchen. Er beendete das humanistische Gymnasium mit Auszeichnung, wurde zu kostenlosem Studium zugelassen. Sein Golgatha dauerte zwanzig Jahre lang, denn zu allem Übel mußte er den Großen Krieg und das Jahr 1920 in Armut überstehen. Erst später kam er auf die Beine, lebte aber stets in Armut, stolz und einsam, Doktor der Philosophie, klassischer Philologe, Sohn landloser Knechte, der sich durch eigene Kraft, Entschiedenheit und Charakterstärke nicht nur über seinen Stand, sondern über Millionen anderer, unter einem glücklicheren Stern geborener Menschen hinaufgearbeitet hatte. Er verdankte alles sich selbst und brauchte nichts von der Welt. Er gab sich mit seiner bescheidenen Existenz zufrieden, bestritt seinen Lebensunterhalt durch gelegentlichen Unterricht in Latein und Griechisch, griff auch nach anderen Beschäftigungen, weil er keine Arbeit scheute, er hatte jede in jungen Jahren kennengelernt. Die Welt, die ihm gegeben war, mochte er nicht. Darum verließ er Welt, Menschen und sichtbare Gegenstände und begab sich in die warmen, sonnigen Länder der Antike.
      Als der Krieg ausbrach, hatte er keine Angst vor der Zukunft. Einsame Menschen, die in einer Welt der Phantasie leben, kennen die Ängste ihrer Nächsten nicht. Krieg und Okkupation machten Dr. Adam Korda nicht ärmer, sie nahmen ihm auch nicht das Privileg der Spaziergänge mit Cicero. Aber er war kein kalter und mitleidloser Phantast. Die Leiden anderer weckten in ihm Mitgefühl. Doch alles, was um ihn geschah, war nicht seine Sache. Er studierte nicht wie so viele andere die Richtung von Hitlers Panzervorstößen, weil ihn das Problem der Anabasis und des Gallischen Krieges ungleich mehr fesselte. Vielleicht fühlte er sich zu Zeiten der Okkupation sogar ein wenig sicherer in der Welt des Trugs und der Unwirklichkeit, alles ringsum war ja unwirklich und von der akzeptierten Norm weit entfernt.
      Man sprach von seinen furchtbaren und zugleich komischen Abenteuern. Er geriet in eine Razzia und bemerkte sie nicht. Forderte ein Gendarm seine Papiere, so konnte er lange nicht begreifen, was dieser Mensch von ihm wollte, bis der Gendarm schließlich, vermutlich gelangweilt oder aus weichem Herzen, mit der Hand abwinkte und ihn gehen ließ.
      »Wie sind Sie

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