Die schoene Frau Seidenman
elegant und schön wie immer. Er wollte ihr sofort entgegenlaufen, doch eine Überlegung hielt ihn zurück. Das wäre nicht höflich, sagte er sich, Frau Gostomska braucht Einsamkeit und Konzentration. Ich werde hinter der Wand wachen. Fröhlichkeit überkam ihn. Er summte ganz leise vor sich hin. Er spürte Hunger, ging in die Küche, aß Brot, trank Milch. Dann entdeckte er in seiner Tasche die Schachtel Zigaretten und warf sie in den Mülleimer.
17
D ie Welt log. Jeder Blick tückisch, jede Geste niederträchtig, jeder Schritt gemein. Gott hatte die schwerste Prüfung noch zurückgehalten, das Joch der Sprache. Noch hatte Er die Meute der unermüdlichen, mit dem Schaum der Heuchelei bedeckten Wörter nicht von der Kette gelassen. Die Wörter kläfften hier und da, kraftlos, an der Leine. Nicht die Wörter töteten damals, erst später sollte aus ihnen eine Mörderbande erwachsen. Das Joch der Wörter war noch nicht gekommen, als sich Bronek Blutman vor dem Angesicht Stucklers befand. Stuckler stand im hellen Fensterrechteck. Draußen vor dem Fenster bewegte sich ein frisch begrünter Zweig im Wind.
»Sie hat gelogen«, sagte Blutman. »Ich kenne sie aus der Zeit vor dem Krieg.«
Stuckler schüttelte den Kopf.
»Ein Jude darf die Worte eines Deutschen nicht in Zweifel ziehen«, sagte er ruhig. »Es geht nicht um den Irrtum, obwohl keiner passieren darf, sondern um den Trotz und die Selbstsicherheit.«
»Herr Sturmführer, mein Gedächtnis trügt nicht. Bevor wir hierher kamen, hat sie überhaupt nicht so getan, als ob…«
Stuckler schlug ihn ins Gesicht. Bronek Blutman trat zurück, ließ den Kopf sinken und verstummte. Die Welt log. Ihre Fundamente waren von Lüge, Hinterlist und Gemeinheit zerfressen. Die Doppeldeutigkeit der Lüge, ihre Vieldeutigkeit und Vielfalt machten ihn schwindlig. Eine Unmenge Verrätereien und Erniedrigungen. Die Unterschiedlichkeit der Verfahren, Methoden und Verkörperungen des Verrats. Ich habe diese Jüdin verraten, aber auch sie mich. Das hat nicht einmal Christus vorausgesehen. Er war gradlinig. Zu Judas sagte er ›Mein Freund‹ und Petrus rief er zu ›Hebe dich, Satan, von mir!‹ Vielleicht war das seine Art von Humor?
Stuckler schlug wieder zu, und Blutman trat wieder zurück. Verlogene Welt. Alles falsch herum. Sogar Christus sagte Sätze, die eine Art von Verrat und Lüge waren. Er sagte zu der Ehebrecherin: ›Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!‹ Wie konnte sie nicht mehr sündigen, da sie doch eine Ehebrecherin war und Er ihr ja nicht befohlen hatte, den Ehebruch zu unterlassen und eine Beschützerin der Gepeinigten zu werden.
Ich kenne sie doch noch aus der Vorkriegszeit, diese Jüdin! Kein Deutscher und kein Pole hat auch nur den zehnten Teil meines Instinkts, ich trage einen Kompaß für Juden in mir, von dem die da keine Ahnung haben. Ein Jude wird einen Juden immer erkennen. Dieser dumme, unwissende Bandit sollte das wissen. Man kann mir vertrauen. Warum? Wenn ich sie verraten habe, kann ich auch ihn verraten! Alle kann ich verraten, weil ich selbst verraten worden bin.
Stuckler versetzte ihm die dritte Ohrfeige. Stucklers Hand war ein bißchen verschwitzt und warm. Bronek Blutman trat nicht mehr zurück. Der Schlag war leichter. Jetzt werden sie mich töten, dachte er.
»Also?« sagte Stuckler. »Es war doch ein Irrtum, nicht wahr?«
Warum will er mich gerade hier in Warschau erniedrigen, wo ich mich hundertmal sicherer bewege als er, als sie alle zusammen?! Er hat ihr ins Ohr geschaut, hat nach den Zeichen gesucht, die es nie gab. Rauscht etwa ein jüdisches Ohr für ihn nicht wie eine Muschel aus dem Ozean, sondern wie die Wüste Judäas? Nicht das Ohr, Stuckler, der Blick! Ich sehe das, Stuckler, mich betrügt kein Jude! Im Lichtstrahl, den ein jüdisches Auge reflektiert, sehe ich den alten Moses, das Passah- und das Laubhüttenfest, ich sehe die Arche des Bundes, die Gesichter aller zwölf Stämme Israels, ich sehe den Garizim und Sichem und Bethel und Hebron, ich sehe das alles in dem einen jüdischen Blick, von Idumäa über den Karmel bis zum Tabor und zum See Genezareth, ja sogar weiter, denn ich sehe Dan und den Berg Hermon. Warum will er mich auf meiner eigenen Erde erniedrigen? Kein Irrtum, er war's, der dem Verrat ins Netz gegangen ist, man brauchte keine Welt des Verrats zu errichten, Stuckler, jetzt hat die Welt des Verrats dich vollends verschlungen. Ich habe mich nicht geirrt, ich bin der Herrscher
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