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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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frühen Nachmittag spürte Dr. Korda, daß er etwas tun mußte und nicht länger reglos bleiben konnte. Er hatte seit vielen Stunden nichts gegessen, aß aber immer wenig, er maß den Mahlzeiten keine Bedeutung zu und hatte darum auch keinen Hunger. Essen ist etwas Barbarisches! pflegte er oft zu sagen. Insofern war er durchaus nicht antik, sondern blieb ein Nachfahre landloser Bauern aus den Świętokrzysker Bergen, die sich mit irgendetwas begnügten, mit Kartoffeln oder einer dünnen Suppe.
      Er verließ seinen Beobachtungspunkt und begab sich nach draußen. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus ging er hin und her. Was hätte er sonst auch tun können? Er spürte in sich eine bisher unbekannte Inhaltslosigkeit, eine angeschwollene Leere. Plötzlich beschloß er, eine Zigarette zu rauchen. Unerhört, dachte er fieberhaft, unerhört! Doch schon ging er auf die Bude hinter der Straßenecke zu, die sich an die Hausmauer kauerte.
    »Bitte eine Schachtel Zigaretten«, sagte er.
    »Welche?« fragte der Verkäufer.
    »Weiß ich nicht. Bitte billige Zigaretten.«
    Es war die Marke Haudegen. Er öffnete die Schachtel, roch daran, schob das Mundstück zwischen die Lippen. Da fiel ihm ein, daß er keine Streichhölzer hatte. Er kehrte zu dem Verkäufer zurück. Endlich steckte er sich die Zigarette an. Er sog den Rauch ein. Husten überkam ihn. Unerhört, dachte er, unerhört! Aber er rauchte weiter. Er ging auf dem Bürgersteig hin und her, ein kleiner Mann in Pumphosen, im Jackett mit ausgelegtem Hemdkragen, in Schnürschuhen bis zum Knöchel, und rauchte wie ein Dampfer. Er spürte schon nicht mehr die Last der Leere in der Brust, sondern einen scharfen, stechenden Schmerz. Jetzt quälte ihn der Husten. Er begab sich zurück in seine Wohnung. Den Zigarettenstummel warf er ins Klosett und spülte nach. Wieder stand er am Fenster. Der Tag verlosch. Sie lebt nicht mehr, dachte Korda. Ein schrecklicher Gedanke. Doch jeder Augenblick gab ihm mehr Gewißheit, daß Frau Gostomska nicht mehr lebte. Schließlich resignierte er, trat tiefer ins Zimmer und setzte sich an den Tisch. Was geht mit mir vor, dachte er, es ist doch nur ein einziger Mensch. Nur ein einziger Mensch. Viele Jahre später, in einer ganz anderen, veränderten, unreifen und gemäßigt grausamen Welt rang er weiter in diesem Dickicht. Von der Antike waren Trümmer übriggeblieben, erst dadurch war die Antike endgültig zerstört. Nur ein einziger Mensch, dachte er damals, nur ein einziger. Ihn entsetzte die Welt, die da plötzlich auftauchte, wie Minerva aus Jupiters Kopf entsprang, groß und allgegenwärtig, in der Wüste von Ruinen und Brandschutt. Er sah sich beraubt und zum Narren gehalten. Diese Welt bot eine Mühelosigkeit an, die Dr. Korda nie angeboten worden war. Alles, was er mit unbeschreiblicher Mühe, unter von den Dichtern beschriebenen Entsagungen errungen hatte, befand sich nun in erreichbarer Nähe für jedermann. Hirt und Barbar stürmten die Akropolis, zu der Dr. Korda einsam, im Schweiße seines Angesichts und in Erniedrigung, mit ungeheurer Anstrengung emporgestiegen war. Er spürte keinen Neid, nur Enttäuschung und Angst. Er fürchtete die Vielzahl. Was galt die Welt, wenn sie nicht erkauft war durch das Opfer des einsamen Menschen, eine Welt, in der jeder alles oder nichts hat, genausoviel und genau dasselbe, ohne Unterscheidung? Nur ein einziger Mensch, wiederholte er, nur ein einziger. Wo leuchten denn für alle dieselben Sterne? fragte er sich. Wo wehen ohne mich meine Winde? Wer außer mir blickt meinem Tod ins Auge? Wer hat meine Götter gesehen, meine Ängste durchlebt, meine Träume geträumt, meinen Hunger erfahren, mein Lachen gelacht und meine Tränen geweint?
      Erst da zerfiel die Antike zu Trümmern. Ein einziger Mensch. Nur ein einziger Mensch.
    Die erste Ladung Dynamit wurde in jenem Augenblick unter einer dorischen Säule gezündet, als Dr. Korda sich an den Tisch setzte und sich sagte, daß Frau Gostomska bestimmt nicht mehr am Leben sei. Ein Mensch war getötet worden. Es blieb nur noch die Menschheit. Ist das möglich? stellte er sich die Frage. Er wollte sich mit dem Tod des Menschen nicht abfinden, stand auf und trat wieder ans Fenster. Die Götter hatten ihn damals nicht verlassen, denn im herabsinkenden Grau, im gefilterten Glanz der letzten Strahlen der Sonne, die hinter den Dächern rauchte, erblickte er die bekannte Gestalt. Frau Gostomska ging den Bürgersteig entlang. Sie wirkte ein bißchen abgespannt, aber

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