Die schoene Frau Seidenman
Bestimmt war der Gurt nicht richtig festgezogen. Immer häufiger stieß er auf Pfuscherei. Die Aura dieses Landes schien einen Bazillus zu bergen, der sogar in die Organismen seiner Untergebenen eindrang. Der Wallach hob den Kopf, sein Huf stieß klirrend an einen Stein. Er liebte diese Harmonie zwischen sich und dem Tier. In solchen Augenblicken spürte er am stärksten den Zusammenhang seines Menschseins mit der Natur. Die Bäume grünten zart, der Frühling lag in der Luft, über den Teich zog ein feiner, warmer Wind und riffelte die glatte Wasseroberfläche. Einmal hat das ein Ende, dachte Stuckler. Arkadien dauert nicht ewig. Der Wallach ging nun im Schritt durch den Schatten der ausladenden Kastanien und Linden. Die noch nackten Zweige gaben den Blick frei auf das helle Palais und die Stümpfe der antiken Säulen, die aus dem Wasser aufzuwachsen schienen wie die Ruinen eines versunkenen Gebäudes. Alles ist hier Fälschung, dachte er, sogar das Schöne, das sie geschaffen haben, ist falsch. Er schlug mit der Reitpeitsche leicht auf das Hinterteil seines Reittiers. Der Wallach ging in gestreckten Trab über. Der Wind pfiff, Stuckler hörte nun das Knirschen der unter den Hufen fortgleitenden Steine und den vollen, edlen Hufschlag. Wieder dachte er, dies alles wird einmal zu Ende gehen, dann folgt die Rückkehr zur Banalität. Und wenn wir den Krieg verlieren, dachte er, gibt es für uns keinen Platz unter der Sonne. So war es immer. Eine Horde überflutet Europa. Der Barbar wird auf den Ruinen triumphieren. Er hielt das Pferd an. Die Sonne stand hoch am Himmel, sie leuchtete durch die Kronen der noch blattlosen Bäume. Die Schatten der Zweige legten sich auf das Gras. Die Barbaren werden verkünden, daß wir Verbrecher gewesen sind, ein Auswurf des Menschengeschlechts. Wir führen diesen Krieg auf grausame Weise, aber Kriege sind immer gleich grausam. Sie werden uns die größte Schande seit Anfang der Welt zuschreiben, als wäre dies alles zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit geschehen. Dennoch tun wir nichts, was andere nicht schon vor uns getan haben. Wir töten die Feinde unserer Nation, um den Sieg zu erringen. Wir töten in großem Ausmaß, weil die Welt vorangeschritten ist und jetzt alles in großem Ausmaß geschieht. Es ist lächerlich und kläglich, aber wenn wir den Krieg verlieren, werden die Sieger verkünden, wir hätten Massenmord begangen, als ob gemäßigtes Morden berechtigt wäre. Darin besteht ihre Moral, in deren Namen sie Krieg führen. Wenn wir verlieren, werden sie eine Bilanz der Opfer aufstellen und zu dem Schluß gelangen, wir seien gewissenlose Verbrecher gewesen. Ich habe nicht mehr als hundert Juden töten lassen. Hätte ich nur zehn töten lassen, wäre ich dann moralischer und der Erlösung würdiger gewesen? Es ist Unsinn, aber genauso werden sie reden, wenn sie den Krieg gewinnen. Sie werden die Toten zählen, und es wird ihnen nicht einfallen, daß ich viele getötet habe, um zu siegen. Hätte ich nur wenige getötet, hätte ich die Feinde geschont, wäre ich ein Verräter an der eigenen Sache, denn Barmherzigkeit im Krieg ist Handeln zugunsten des Gegners, Verringerung der eigenen Chancen. So war es immer. Juden? Polen? Russen? Jeder verschonte Jude oder Pole kann verursachen, daß in diesem Krieg ein Deutscher umkommt, ein Mensch meiner Rasse, meines Blutes. Aber wenn sie siegen, werden sie mir den Vorwurf machen, ich sei ohne Mitleid gewesen, sie werden vergessen, daß es immer so war, sie werden auch ihre eigene Grausamkeit, ihre eigene Mitleidslosigkeit vergessen. Ich habe mir den Krieg nicht ausgedacht, Adolf Hitler auch nicht, Gott selbst hat die Menschen zu Kriegern gemacht. So war es immer.
Das Pferd blieb stehen. Stuckler spürte im Nacken die Wärme der Sonnenstrahlen. Das Wasser im Teich war leicht geriffelt. Ringsum Leere, das Pferd hatte ihn scheinbar ans Ende der Welt getragen.
Die falschen Säulen vor dem Hintergrund des falschen Teiches wirkten schön. Stuckler seufzte tief. Er schaute zum Himmel auf. Gott? Gibt es ihn wirklich? Im 20. Jahrhundert ist es nicht leicht, an Gott zu glauben. Wir haben uns als so ausdauernd im Aufdecken der Naturgeheimnisse erwiesen, daß wir für Gott immer weniger Platz gelassen haben, wo er sich in seiner Rätselhaftigkeit verstecken könnte. Wenn es die Wahrheit ist, daß alles von Ihm kommt, dann hat er dem Menschengeschlecht auch den Krieg geboten. Also sind wir gute Krieger.
Doch Stuckler besaß keinen
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