Die schoene Frau Seidenman
erwartet hatte. Fast jeden Tag der letzten zwei Jahre war sie auf ein solches Ende vorbereitet gewesen. In der Stadt hatte sie Legenden über den Gang mit den engen Käfigen gehört. Sie hatte sich den Gang vorgestellt. Er erwies sich als ein wenig anders, kleiner, vielleicht etwas gemütlicher, nicht so entsetzlich wie in den Berichten, denen sie mit bedrücktem Herzen gelauscht hatte. Jetzt befand sie sich in diesem Gang. Sie mußte nicht mehr befürchten, hierher zu kommen. Die Mauern, das Gitter, die Glühbirne, die gedämpften Atemzüge in der Nähe, aber auch der eigene Atem, seltsam gleichmäßig und leise. Ihr eigener Organismus gewöhnte sich an den Gang, paßte sich ihm an. Das war jetzt Irma Seidenmans gesamte Welt. Sie mußte darin leben.
Plötzlich dachte sie, das Leben sei nur das Vergangene. Es gebe kein anderes Leben als die Erinnerung. Die Zukunft existiere nicht, weder hier hinter den Gittern noch überall draußen, auf der Straße, im Wald, auf dem Meer, in den Armen des geliebten Mannes. Das Leben sei das in Erfüllung Gegangene, dessen wir gedenken, das geschehen und verflossen ist, um als Erinnerung zu bleiben. Die Zukunft kann nicht das Leben sein, dachte Irma Seidenman, weil es mich in der Zukunft nicht gibt, weil ich dort weder Hunger noch Durst, weder Kälte noch Wärme empfinde. Was irgendwo und irgendwann geschehen wird, ist noch jenseits von mir, verborgen hinter Mauer und Gitter, hinter meinem Raum und meinem Verständnis, es ist noch auf fernen Sternen, in der kosmischen Vorsehung. Mein Leben ist hier, denn ich bin hier, mein Körper, vor allem meine Erinnerung. Nur was schon geschehen ist, ist mein Leben, sonst nichts! An das Leben denken, heißt darum, an die erinnerte Vergangenheit denken, und jeder Augenblick ist Vergangenheit, das Abschließen des Gitters ist Vergangenheit, das Vorneigen des Kopfes, das Stützen in die Hände ist Vergangenheit. Das habe ich erlebt, mein Gott! Ich habe nichts erlebt als das, woran ich mich erinnere. Außerhalb der Erinnerung existiert nichts.
Sie erinnerte sich an ihren Mann, Dr. Ignacy Seidenman, einen großen, schlanken Menschen, den sie sehr geliebt hatte, obwohl sie keine Kinder bekamen. Zu Anfang ihrer Ehe bedauerten sie das, fanden sich aber bald damit ab und suchten das Glück zu zweit. Dr. Ignacy Seidenman starb am Krebs im Jahre 1938. Als er gestorben war, glaubte Irma Seidenman, nicht länger leben zu können, die Verzweiflung schien ihr unerträglich. Doch nach einiger Zeit beschäftigte sie das Ordnen seines wissenschaftlichen Nachlasses, seiner Arbeiten auf dem Gebiet der Röntgenologie sehr, das machte den Schmerz um den Verlust weniger quälend. Später stellte sie ziemlich unverhofft und nicht ohne Verwunderung fest, daß die Röntgenologie sie mehr fesselte als der Gedanke an ihren abwesenden Mann. Zunächst hatte sie sich nur verpflichtet gefühlt, in dem chaotischen wissenschaftlichen Werk des Doktors Ordnung zu schaffen, sie hatte das als ihre moralische Pflicht gegenüber seinem Andenken empfunden. Nach einiger Zeit jedoch bemerkte sie wesentliche Lücken in diesen Notizen, Aufnahmen, Krankengeschichten, Folgerungen – und fühlte etwas wie Scham, daß ihr Mann, ein so fleißiger und vernünftiger Mensch, eine gewisse Unordnung und Unachtsamkeit nicht vermieden hatte. Sie konnte das nicht so lassen, sie konnte Dr. Ignacy Seidenmans Erbe nicht einer böswilligen Kritik aussetzen. Deshalb reiste sie nach Paris, zu Professor Lebrommel und suchte bei ihm Hilfe. Ihre Zeit reichte nicht aus, mit den Tausenden von Mappen und Umschlägen ins Reine zu kommen – der Krieg brach aus. Zu dieser Zeit nahm Ignacy Seidenman in ihrem Leben weniger Platz ein als sein Archiv. Und dieses Archiv bewirkte, daß sie gar nicht daran dachte, ins Ghetto zu ziehen. Sie hatte hellblondes Haar, blaue Augen, eine gerade, wohlgeformte Nase und zarte, ein wenig ironisch geschnittene Lippen. Sie war eine sehr schöne Frau von sechsunddreißig Jahren und besaß ein beträchtliches Kapital in Schmuck und Golddollars. Dr. Seidenmans Archiv brachte sie bei Freunden unter, in einer geräumigen hölzernen Villa in Józefów, während sie selbst, nachdem sie, um ihre Vergangenheit zu vertuschen, dreimal die Wohnung und die Personalpapiere gewechselt hatte, schließlich als Maria Magdalena Gostomska, Offizierswitwe, eine hübsche Einzimmerwohnung in Mokotów mietete. Um ihren Lebensunterhalt brauchte sie sich nicht zu sorgen, zudem waren ihre Bedürfnisse
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