Die schöne Mätresse
Pfund erhalten, der zu ihrer freien Verfügung stand. Zusätzlich hatte ihr Vater bestimmt, dass die Summe allein ihr gehörte und für keinen Ehemann zugänglich war.
„Meine Tochter ist zu allem fähig“, hatte er dem verblüfften Anwalt erklärt. „Sie kann ihr Vermögen selbst verwalten.“
Bereits vor Eintreffen des Briefes hatte es Gerüchte in der Stadt gegeben. Plötzlich wurde Emily von Einladungen förmlich überschüttet, und keine Gastgeberin schien eine Abendgesellschaft geben zu wollen, bei der nicht die außergewöhnlichste – und mittlerweile auch reichste – Witwe Londons anwesend war.
Damen, die sie früher geschnitten hatten, standen nun Schlange, um mit ihr zu plaudern. Sie befragten sie sogar mutig nach ihren Geschäften, ein Thema, das noch vor wenigen Wochen tabu gewesen wäre. Erst gestern hatte ihr eine angesehene Besucherin ein Geschenk mitgebracht, das Natalie einen entzückten Aufschrei entlockt hatte – eine Einladung zu Almack’s.
Der Ball am Mittwochabend wurde nicht umsonst insgeheim „der Heiratsmarkt“ genannt. Emily fragte sich, wie viele Damen einen mittellosen, aber blaublütigen Bruder oder Sohn hatten, den sie ihr vorstellen wollten.
Papa hätte sich über diesen ganzen Trubel königlich amüsiert! Eine tiefe Traurigkeit ergriff sie, als sie an ihn dachte.
Es war allerdings nicht allein die Schuld ihres Vaters, dass es keine Aussöhnung gegeben hatte. Sie war ebenso dickköpfig wie er. Warum hatte sie sich nicht dazu überwunden, sich bei ihm zu entschuldigen und nach Hause zu kommen?
Vorsichtig faltete sie den Brief zusammen. Drew war noch zu jung, um die Zeilen zu verstehen, aber später sollte er erfahren, dass ihn sein tyrannischer Großvater trotz allem geliebt hatte.
Dann kam ihr ein bitter-süßer Gedanke. Papa war erst vor einem Jahr gestorben, als sie sich bereits in London aufgehalten hatte. Was, wenn er sie damals gefunden hätte? Man hätte sie öffentlich vorgestellt und als Tochter des Duke akzeptiert. Falls sie Evan bei der ersten Begegnung als Gleichgestellte gegenübergetreten wäre, hätte sich dann alles anders entwickelt?
Für derartige Spekulationen war es indes viel zu spät, oder?
Selbst ihr neu gewonnener Reichtum verwirrte sie nicht so sehr wie der unerwartete Besuch, den ihr Miss Andrea Marlowe gestern abgestattet hatte.
Emily hatte in ihrem Arbeitszimmer an einem Entwurf gesessen, als Francesca den Gast gemeldet hatte. Da sie Evans Verlobte seit der Nacht an seinem Bett nicht mehr gesehen hatte, wusste sie immer noch keine plausible Ausrede für ihr ungewöhnliches Interesse an dem kranken Sohn einer flüchtigen Bekannten.
Die junge Dame folgte Francesca in so geringem Abstand, dass Emily auch keine Zeit mehr besaß, sich eine Erklärung auszudenken. Sie überlegte, was Miss Marlowe an einem so unpassenden Ort mit ihr besprechen wollte. Höflich bot sie ihr Tee an.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich möchte Sie nicht bei der Arbeit stören. Ich bewundere, wie Sie Ihr Talent geschäftlich nutzen. Ihre Kreationen sind wunderschön und originell. Lady Cheverly hält viel von Ihnen. Wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmacht, würde ich Ihre Zeichnungen sehr gern einmal sehen.“
Emily war überrascht und geschmeichelt zugleich. Miss Marlowes Tonfall enthielt keine Ironie, und sie schien sich wirklich für die Skizzen zu interessieren. „Natürlich. Ich wollte ohnehin gerade eine Pause machen und Tee trinken. Vielleicht möchten Sie sich mir anschließen?“
„In diesem Fall wäre es mir ein Vergnügen.“
Nach weiteren zehn Minuten über den Zeichnungen, wobei Miss Marlowe ihre Arbeit lobte und intelligente Fragen stellte, entspannte sich Emily. Sie führte Miss Marlowe in den kleinen Salon, wo Francesca den Tee servierte. Insgeheim empfand sie tiefe Dankbarkeit für die junge Frau, die ihr den Zugang zu Evans Krankenbett ermöglicht hatte.
Sie saßen beim Tee und plauderten über Stoffe und Farben. Plötzlich fragte das Mädchen: „Würden Sie ein Kleid für meine Hochzeit entwerfen?“
Emily verschluckte sich beinahe. Bisher war alles zu harmonisch verlaufen. Sie hätte für keinen Augenblick vergessen dürfen, dass ihr Gast Evans Verlobte war.
Beruhige dich, dachte sie. Miss Marlowe war schließlich nur eine weitere zahlende Kundin. Außerdem, wer verdiente es mehr als Evan, dass seine Frau an ihrem Hochzeitstag ein Kleid trug, das ihre Schönheit hervorhob?
Und Miss Marlowe schien in diesem Moment tatsächlich
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