Die schoene Tote im alten Schlachthof
Boer fuhren schweigend über die B 49 in Richtung
der Grenze zum Großherzogtum. Als sie Igel mit seinem berühmten römischen
Grabdenkmal passierten, sagte de Boer:
»Und was machen wir, wenn Kafka tatsächlich in Waldbillig ist?«
Ferschweiler blickte weiterhin aus dem Fenster auf das allmählich in
den Blick kommende, am Hang liegende Gruthenhäuschen, einen rekonstruierten
römischen Grabtempel, an dem sie einen Augenblick später mit hoher
Geschwindigkeit vorbeizogen. Kaum vorzustellen, dass diese eng dem Verlauf des
Flusses folgende Straße in der Antike einmal fast vollständig von
Grabdenkmälern gesäumt gewesen war. Ferschweiler musste an den toten Thomas
Gorges denken.
»Erst einmal reden wir mit unserer Kollegin«, sagte er nach einer
Weile. »Und dann sollten wir versuchen, Kafka festzusetzen. Oder hast du schon
etwas anderes geplant?«
»Nein«, sagte de Boer.
»Gut. Du weißt, dass ich Aktionismus jeder Art hasse«, erwiderte
Ferschweiler.
Auch als Autofahrer war de Boer ein besonderer Fall. Regeln kannte
er am Steuer keine. So missachtete er grundsätzlich alle
Geschwindigkeitsbegrenzungen und andere Vorgaben der Straßenverkehrsordnung.
Die Dreißigerzone in Wasserbilligerbrück schien er gar nicht wahrzunehmen. Mit
achtzig Sachen bretterte er durch den kleinen Ort. Sobald sie auf der
Bundesstraße Richtung Echternacherbrück waren, erreichte die Tachonadel, kaum
dass sie das letzte Haus hinter sich gelassen hatten, schon wieder den Bereich
jenseits der hundertzwanzig. Ferschweiler wurde in den Sitz gepresst und hielt
sich am ausklappbaren Handgriff oberhalb der Beifahrertür fest. Weder in
Metzdorf noch in Ralingen nahm de Boer den Fuß vom Gas, auch nicht in Godendorf
oder Minden. Es fehlte nur noch, dass er das mobile Blaulicht aufs Wagendach
setzte. Ferschweiler hätte am liebsten, wäre es ihm möglich und die Verbindung
nicht so schlecht gewesen, den Bus genommen.
Als sie die Brücke in Echternacherbrück erreichten, an deren westlichem
Ende das Staatsgebiet von Luxemburg begann, mäßigte sich de Boer plötzlich und
hielt sich exakt an die ausgeschilderte Geschwindigkeitsbegrenzung.
Ferschweiler sah ihn erstaunt an.
»Na ja«, sagte der Holländer verlegen, der Ferschweilers Blick bemerkt
hatte. »Die kontrollieren im Ländchen ja regelmäßig. Und die Strafen sind
wirklich happig … Und bei meinem Gehalt …«
Ferschweiler musste lachen. »Ach, Wim. Allmählich beginne ich dich
tatsächlich zu mögen.«
Als sie Echternach erreicht hatten, parkte de Boer den
Wagen auf einem großen Parkplatz in der Nähe des alten Abteigebäudes direkt am
Ufer der Sauer. Im Mittelalter war Echternach ein wichtiges religiöses Zentrum
gewesen und hatte eine bedeutende Schule der europäischen Buchmalerei
beherbergt, dann aber war es in eine Art Dornröschenschlaf gefallen, aus dem es
erst langsam wieder erwachte. Für Touristen war die Stadt auf jeden Fall eine
Reise wert. Ferschweiler selbst war das letzte Mal vor vier Jahren im
Zusammenhang mit einem anderen Fall hier gewesen.
Zu Fuß machten sich die beiden Polizisten auf den Weg zum
städtischen Verwaltungsgebäude, das keine dreihundert Meter vom Ufer des
Flusses entfernt lag. Aus den die Straßen säumenden kleinen Restaurants und
Gaststätten, die sich nun zur Mittagszeit allmählich füllten, drangen
wohlriechende Essensdüfte auf den Gehsteig. Ferschweiler verspürte das starke
Verlangen, wieder einmal Träipen, Gromperekichelcher oder Kuddelfleck zu essen,
moselfränkische Spezialitäten seiner Kindheit, wie es sie authentisch nur noch
in ganz wenigen Restaurants in Luxemburg gab. In Trier suchte er danach
vergeblich, aber hier in Echternach könnte er vielleicht Glück haben. Er
überlegte, ob sie vielleicht nach ihrem Gespräch mit Tessy Contz noch in einer
der einladend wirkenden Gaststuben einkehren sollten, aber angesichts der
Umstände des Falls verwarf er diese Idee recht schnell wieder.
»Chef, da vorn ist die Dienststelle«, riss ihn de Boer aus seinen
Gedanken.
Das dreistöckige Gebäude hatte seine besten Tage bereits hinter sich.
Grau und unwirtlich präsentierte es sich seinen Besuchern. Neben der Tür
prangte das Bronzeschild der Police Grand-Ducal , das
das Staatswappen Luxemburgs, den aufgerichteten roten Löwen auf hellblau-weiß
gestreiftem Grund, trug. Ferschweiler wollte den Aufzug rufen, doch der leicht
belustigte Gesichtsausdruck de Boers ließ ihn dann doch ebenfalls die Treppe
nehmen.
Die Dienststelle der
Weitere Kostenlose Bücher