Die Schönen und Verdammten
und wahrhaftig vergessen. Sie wusste nur: In einem dunklen, schattenhaften Leben hatte jemand sie genommen – es war, als sei es im Schlaf geschehen.
Anthony fuhr fast jeden Abend in die Stadt. Für die Veranda war es inzwischen zu kühl, daher trat ihre Mutter ihnen das winzige Wohnzimmer ab, mit seinen Dutzenden billig gerahmter Chromolithographien, seinen meterlangen Zierfransen und der stickigen Atmosphäre jahrzehntelanger Nachbarschaft zur Küche. Sie machten ein Feuer – dann gab sie sich fröhlich und unerschöpflich dem Geschäft der Liebe hin. Jeden Abend um zehn brachte sie ihn zur Tür, das schwarze Haar zerzaust, das Gesicht blass ohne Kosmetik, [432] blasser noch im weißen Licht des Mondes. Meist war es draußen hell und silbrig; dann und wann fiel träger, warmer Regen, fast zu leicht, um den Boden zu erreichen.
»Sag, dass du mich liebst«, flüsterte sie.
»Aber natürlich, du süßes Kind.«
»Bin ich ein Kind?« Dies fast wehmütig.
»Ein kleines Kind.«
Sie ahnte nebelhaft, dass es Gloria gab. Der Gedanke schmerzte sie, und so stellte sie sich vor, dass Gloria hochmütig war, stolz und kalt. Sie hatte beschlossen, dass Gloria älter sein müsse als Anthony und dass die Eheleute sich lieblos zueinander verhielten. Manchmal wagte sie davon zu träumen, dass Anthony nach dem Krieg die Scheidung einreichen und sie heiraten würde – doch sagte sie Anthony nichts davon, sie wusste kaum, weshalb. Sie teilte den Glauben seiner Kompanie, dass er eine Art Bankangestellter sei– hielt ihn für achtbar und arm.
So sagte sie etwa: »Wenn ich Geld hätte, Liebling, würde ich jedes bisschen dir geben… Ich hätte gern so um die fünfzigtausend Dollar.«
»Das wäre eine ganze Menge«, stimmte Anthony ihr zu.
In ihrem Brief vom selben Tag hatte Gloria geschrieben: »Ich denke, wenn wir uns außergerichtlich auf eine Million einigen könnten, wäre es besser, Mr. Haight anzuweisen, dass er sich darauf einlassen soll. Aber es wäre doch ein Jammer…«
»…dann könnten wir uns ein Auto zulegen«, rief Dot triumphierend.
[433] Eine außergewöhnliche Gelegenheit
Captain Dunning war stolz darauf, ein großer Menschenkenner zu sein. Wenn er einem Mann begegnete, steckte er ihn gewöhnlich schon eine halbe Stunde später in eine von zahlreichen erstaunlichen Schubladen – feiner Kerl, braver Kerl, kluger Kerl, Theoretiker, Dichter und Nichtsnutz. Eines Tages Anfang Februar veranlasste er, dass Anthony im Ordonnanzenzelt vor ihn gebracht wurde.
»Patch«, sagte er schulmeisterhaft, »ich habe schon seit mehreren Wochen ein Auge auf Sie.«
Anthony stand stramm und reglos da.
»Und ich glaube, Sie haben das Zeug zu einem guten Soldaten.«
Er wartete darauf, dass die warme Glut, die er damit naturgemäß hervorrief, abkühlte – und fuhr dann fort: »Das ist kein Kinderspiel«, sagte er und zog die Brauen zusammen.
Anthony pflichtete ihm mit einem schwermütigen »Nein, Sir« bei.
»Das ist ein Männerspiel – und wir brauchen Führer.« Dann der Höhepunkt, schnell, sicher und elektrisierend: »Patch, ich werde Sie zum Korporal ernennen.«
In diesem Augenblick hätte Anthony überwältigt einen Schritt zurücktaumeln müssen. Er sollte einer von einer Viertelmillion Männern werden, die für diese höchste Pflicht auserkoren waren. Er sollte sieben anderen ängstlichen Männern die fachmännische Losung »Mir nach!« zurufen können.
»Sie scheinen ein Mann von Bildung zu sein«, sagte Captain Dunning.
[434] »Jawohl, Sir.«
»Das ist schön, das ist schön. Bildung ist etwas Großartiges, aber lassen Sie es sich nicht zu Kopf steigen. Bleiben Sie, wie Sie sind, und Sie werden einen guten Soldaten abgeben.«
Mit diesen nachklingenden Worten war er entlassen. Corporal Patch salutierte, führte eine Kehrtwendung nach rechts aus und verließ das Zelt.
Obwohl die Unterredung Anthony belustigte, löste sie in ihm doch die Vorstellung aus, dass das Leben als Sergeant oder, sollte er einen weniger peniblen Musterungsarzt finden, als Offizier amüsanter wäre. An der Tätigkeit selbst, die die vielgerühmte Tapferkeit der Armee Lügen zu strafen schien, war er nicht sehr interessiert. Bei der Truppenbesichtigung zog man sich nicht an, um gut auszusehen; man zog sich an, um nicht schlecht auszusehen.
Doch als der Winter dahinschwand – ein kurzer, schneeloser Winter, gekennzeichnet von feuchten Nächten und kühlen, regnerischen Tagen –, wunderte er sich, wie rasch das System von ihm Besitz
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