Die Schönen und Verdammten
war, als gebe es in seinem Kopf eine ganze Reihe dunkler und doch lebhafter Persönlichkeiten, einige davon vertraut, andere wie [453] der fremd und furchterregend, in Schach gehalten von einem kleinen Schiedsrichter, der irgendwo hoch oben saß und zuschaute. Es beunruhigte ihn, dass der Schiedsrichter kränkelte und nur mühsam durchhielt. Wenn er aufgab, wenn er auch nur einen Augenblick schwankte, würden diese unerträglichen Wesen hervorstürzen – nur Anthony wusste, was für eine Schwärze herrschen würde, wenn sein Ärgstes ungehemmt in seinem Bewusstsein umherschweifen würde.
Irgendwie hatte die Hitze des Tages sich verändert. Ein gebräuntes Dunkel war es jetzt, welches das versengte Land zermalmte. Vor seinen Augen drehten sich unaufhörlich die blauen Kreise unheilvoller, auf keiner Karte verzeichneter Sonnen, ungezählter Feuerkerne über ihm, als liege er, ständig dem heißen Licht ausgesetzt, in fiebrigem Koma. Um sieben Uhr morgens ging etwas Gespenstisches, etwas beinahe widersinnig Unwirkliches, von dem er wusste, dass es seine sterbliche Hülle war, mit sieben anderen Gefangenen und zwei Wachtposten hinaus, um auf den Lagerstraßen zu arbeiten. An einem Tag luden sie Unmengen Schotter auf und ab, verteilten sie, harkten sie – am folgenden Tag arbeiteten sie mit riesigen Fässern glühendheißen Teers und schütteten schwarzglänzende Lachen geschmolzener Hitze auf den Schotter. Nachts, eingesperrt ins Arrestlokal, lag er bis etwa drei Uhr wach, ohne jeden Gedanken, ohne den Mut, Gedanken zu fassen, und starrte zu den unregelmäßigen Dachsparren hinauf; dann fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Während der Arbeitsstunden rackerte er sich ab, unruhig, gehetzt, bemüht um körperliche Ermüdung, wenn sich [454] der Tag dem schwülen Sonnenuntergang über Mississippi zuneigte, damit er abends vor lauter Erschöpfung fest schlafen konnte… Eines Nachmittags in der zweiten Woche hatte er das Gefühl, als beobachteten ihn direkt hinter einem der Wachtposten zwei Augen. Eine Art Entsetzen bemächtigte sich seiner. Er wandte den Augen den Rücken zu und schaufelte fieberhaft, bis er sich wieder umdrehen musste, um mehr Schotter heranzuschaffen. Da traten sie wieder in sein Blickfeld, und seine ohnehin schon angegriffenen Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Augen schielten nach ihm. Aus der heißen Stille hörte er eine tragische Stimme, die seinen Namen rief, und in einem lärmenden Durcheinander kippte die Erde vor und zurück.
Als er wieder zu sich kam, befand er sich im Arrestlokal, und die anderen Gefangenen warfen ihm neugierige Blicke zu. Die Augen erschienen nicht wieder. Es dauerte etliche Tage, ehe ihm klar wurde, dass es Dots Stimme gewesen sein musste, dass sie ihm etwas zugerufen und für Aufsehen gesorgt hatte. Zu diesem Schluss kam er kurz vor Ablauf seiner Strafe, als der Nebel, der sich auf ihn gelegt hatte, sich lichtete und ihn in einem Zustand tiefer, mutloser Lethargie zurückließ. Im gleichen Maß, wie jener Vermittler – der Schiedsrichter, der den Haushalt des Schreckens in Schach hielt – erstarkte, schwächte sich Anthonys körperliche Verfassung. Er war kaum mehr fähig, die letzten beiden Tage Arbeit durchzustehen, und als er an einem regnerischen Nachmittag entlassen wurde und zu seiner Kompanie zurückkehrte, sank er gleich nach der Ankunft in seinem Zelt in einen schweren Schlaf, aus dem er vor Morgengrauen schmerzgeplagt und wenig erfrischt aufwachte. Neben [455] seiner Pritsche lagen zwei Briefe, die schon seit einiger Zeit in der Schreibstube auf ihn gewartet hatten. Der erste stammte von Gloria; er war kurz und kühl:
Der Fall kommt Ende November vor Gericht. Kannst Du möglicherweise Urlaub bekommen?
Ich habe immer wieder versucht, Dir zu schreiben, aber das scheint alles nur schlimmer zu machen. Ich möchte Dich wegen verschiedener Angelegenheiten sehen, aber Du weißt, dass Du mich schon einmal am Kommen gehindert hast, und ich bin nicht geneigt, es noch einmal zu versuchen. In Anbetracht einer Reihe von Dingen scheint es mir notwendig, eine Konferenz abzuhalten. Ich freue mich sehr über Deine Beförderung.
GLORIA
Er war zu müde, um auch nur annähernd zu verstehen – oder sich etwas daraus zu machen. Ihre Ausdrucksweise, ihre Absichten, all das lag in weiter Ferne, in einer unbegreiflichen Vergangenheit. Den zweiten Brief würdigte er kaum eines Blickes; er war von Dot – ein unzusammenhängendes, tränenverschmiertes Geschreibsel, eine Flut
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