Die Schönen und Verdammten
ein und erhob sich. Wer war Mr. Crawford? Und wer war mit ihr zum Ball gegangen? Wie lange ging das schon? Alle diese Fragen stellten und beantworteten sich ein dutzendmal, dutzendfach. Ihre Nähe trieb ihn schier zur Verzweiflung.
In einem Anfall von Argwohn stürzte er im Apartment hin und her, suchte nach Spuren eines männlichen Bewohners, öffnete das Badezimmerschränkchen und durchstöberte fieberhaft die Schubladen des Sekretärs. Dann fand er etwas, das ihn plötzlich innehalten ließ. Er setzte sich auf eines der beiden Betten und ließ die Mundwinkel herabhängen, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Dort, in der Ecke ihres Sekretärs lagen, zusammengehalten von einem zarten, blauen Band, all die Briefe und Telegramme, [462] die er ihr im Laufe des vergangenen Jahres geschrieben hatte. Scham, Glück und Wehmut durchströmten ihn.
»Ich bin es nicht wert, sie zu berühren«, rief er den vier Wänden zu. »Ich bin es nicht wert, ihre kleine Hand zu berühren.«
Dennoch ging er hinaus, um nach ihr zu suchen.
Im Foyer des Astor verschluckte ihn sofort eine Menschenmenge, so dass an ein Fortkommen fast nicht zu denken war. Er musste ein halbes Dutzend Leute nach dem Ballsaal fragen, bevor er eine nüchterne und verständliche Antwort erhielt. Endlich, nach einem letzten langen Warten, gab er seinen Soldatenmantel an der Garderobe ab.
Es war erst neun, aber der Tanz war in vollem Gange. Das Bild, das sich ihm darbot, war unglaublich. Frauen, überall Frauen – weinfröhliche Mädchen, die schrill über das Gelärme der schwankenden, mit Konfetti übersäten Menge hinweg sangen; Mädchen, von den Uniformen zahlreicher Nationen verschönt; fette Weiber, die würdelos auf dem Tanzboden zusammenbrachen und ihre Selbstachtung nur wahren konnten, indem sie »Die Alliierten leben hoch!« schrien; drei Frauen mit weißen Haaren, die Hand in Hand einen Matrosen umtanzten, der sich in einer schwindelerregenden Kreiselbewegung auf der Tanzfläche drehte und eine leere Flasche Champagner ans Herz drückte.
Mit angehaltenem Atem musterte Anthony die Tänzer, musterte die verworrene Schlange der Polonaise, die sich zwischen den Tischen hindurchwand, musterte die trötenden, küssenden, keuchenden, lachenden, trinkenden Grüppchen unter den großen, vollbusigen Fahnen, die sich in glühenden Farben über das rauschende Fest beugten.
[463] Dann sah er Gloria. Sie saß an einem Tisch für zwei Personen genau auf der anderen Seite des Saals. Ihr Kleid war schwarz, und das begeisterte, von einem höchst glamourösen Rosé gefärbte Gesicht war, fand er, ein Fleck schmerzlicher Schönheit im Saal. Sein Herz machte einen Satz wie zu einer neuen Musik. Er wühlte sich zu ihr durch und rief ihren Namen in dem Augenblick, als die grauen Augen aufsahen und ihn erkannten. Als ihre Körper sich fanden und miteinander verschmolzen, verblassten die Welt, das Fest, das holprige Gewimmer der Musik für einen Moment zu einem einzigen ekstatischen Ton, gedämpft wie das Summen von Bienen.
»Ach, meine Gloria!«, rief er.
Ihr Kuss war ein kühles Rinnsal, das aus ihrem Herzen floss.
[464] Eine Frage der Ästhetik
Ein Jahr zuvor, an demselben Abend, als Anthony nach Camp Hooker aufgebrochen war, stieg, was von der schönen Gloria Gilbert übriggeblieben war – ihre Hülle, ihr junger, hübscher Körper –, zum Rhythmus der Lokomotive, der ihr wie ein Traum in den Ohren klang, die breite Marmortreppe der Grand Central Station empor und auf die Vanderbilt Avenue hinaus, wo das massige Gebäude des Biltmore Hotel die Straße überragte und mit seinem glänzenden niedrigen Eingang die bunten Abendmäntel prächtig gekleideter Mädchen verschluckte. Einen Augenblick lang blieb sie am Taxistand stehen und sah ihnen zu – sie wunderte sich, dass sie noch vor wenigen Jahren eines von ihnen gewesen war, stets auf der Suche nach einem leuchtenden Irgendwo, stets kurz davor, jenes letzte leidenschaftliche Abenteuer zu bestehen, für das die Mäntel der Mädchen vornehm und pelzbesetzt, für das ihre Wangen geschminkt waren und ihre Herzen höher schlugen, höher als die vergängliche Vergnügungsstätte, welche sie, mitsamt Frisur und Mantel, verschlang.
Es wurde kälter, und die vorübergehenden Männer hatten den Mantelkragen hochgeschlagen. Die Veränderung tat ihr gut. Noch besser hätte es ihr getan, wenn sich alles verändert hätte, das Wetter, die Straßen und die Menschen, und [465] wenn sie fortgetragen worden und in einem
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