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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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in die frostige Luft aufstiegen, klar und deutlich: »Deutschland hat kapituliert! Deutschland hat kapituliert!«
    Der trügerische Waffenstillstand
    Um sechs Uhr desselben Abends stahl sich Anthony im trüben Licht zwischen zwei Güterwagen hindurch, und nachdem er das Gleis überquert hatte, folgte er den Schienen bis nach Garden City, wo er einen elektrischen Zug nach New York nahm. Er riskierte, aufgegriffen zu werden – er wusste, dass die Militärpolizei oft durch die Abteile geschickt wurde, um Urlaubsscheine zu kontrollieren, aber er dachte sich, dass sie heute Abend weniger wachsam waren. [459] Allerdings hätte er in jedem Falle versucht, sich durchzuschlagen, denn telefonisch hatte er Gloria nicht erreichen können, und einen weiteren Tag in Ungewissheit hätte er nicht ertragen.
    Nach unerklärlichen Aufenthalten und Wartezeiten, die ihn an den Abend vor mehr als einem Jahr erinnerten, als er von New York abgereist war, fuhren sie in die Pennsylvania Station ein, und er folgte dem vertrauten Weg zum Taxistand. Er fand es grotesk und merkwürdig belebend, seine eigene Adresse zu nennen.
    Der Broadway war ein Farbenmeer, in dem sich eine ausgelassene Menschenmenge drängte, wie er sie noch nie gesehen hatte. Glitzernd schob sie sich durch die Papierschnipsel, die sich knöcheltief auf den Gehsteigen häuften. Hier und da, erhöht auf Bänken und Kisten, redeten Soldaten auf die achtlose Menge ein. Im grellen Weiß der Laternen wirkte jedes der Gesichter scharf geschnitten und deutlich. Anthony beobachtete einige Gestalten – ein betrunkener Matrose, der nach hinten wegkippte und von zwei anderen Blaujacken gestützt wurde, winkte mit seiner Mütze und stieß ein wildes Gebrüll aus; ein kriegsversehrter Soldat wurde, Krücke in der Hand, wie in einem Wirbel auf den Schultern einiger kreischender Zivilisten getragen; ein dunkelhaariges Mädchen saß in meditativem Lotossitz auf einem abgestellten Taxi. Gewiss, hier war der Sieg gerade rechtzeitig gekommen, der Höhepunkt war mit äußerster himmlischer Hellsicht gewählt. Die große, reiche Nation hatte einen siegreichen Krieg ausgefochten, hatte genügend gelitten, um Schmerz, nicht jedoch, um Bitterkeit zu empfinden – daher das Volksfest, die Feierlichkeiten, der [460] Triumph. Unter den hellen Lichtern glänzten die Gesichter von Völkern, deren Ruhm längst verflogen, deren Zivilisation längst versunken war – Männer, deren Vorfahren hundert Generationen zuvor die Nachricht vom Sieg in Babylon, in Ninive, Bagdad, Tyros vernommen hatten; Männer, deren Vorfahren zugeschaut hatten, wie sich auf den Alleen des imperialen Rom ein mit Blumen überschütteter, mit Sklaven geschmückter Triumphzug entlangwälzte, in seinem Gefolge Gefangene…
    Vorbei am Rialto, an der glitzernden Fassade des Astor, der Juwelenpracht des Times Square… vor ihm eine herrlich glühende Gasse… Dann – war es Jahre später? – bezahlte er den Taxichauffeur vor einem weißen Gebäude in der 57. Straße. Er stand in der Eingangshalle – ah, da war ja der Negerjunge aus Martinique, faul, träge, unverändert.
    »Ist Mrs. Patch da?«
    »Hab grad erst angefangen, Sir«, verkündete der Junge mit seinem unpassenden britischen Akzent.
    »Bring mich nach oben…«
    Dann das langsame Summen des Fahrstuhls, die drei Stufen zur Tür, die von der Wucht seines Klopfens von selbst aufflog.
    »Gloria!« Seine Stimme zitterte. Keine Antwort. Von einem Aschenbecher stieg eine dünne Rauchfahne auf – auf dem Tisch lag aufgeschlagen eine Ausgabe von Vanity Fair.
    »Gloria!«
    Er eilte ins Schlafzimmer, ins Bad. Sie war nicht da. Ein Negligé, das blau wie das Ei eines Rotkehlchens auf dem Bett lag, verströmte einen schwachen Parfümduft, trügerisch und vertraut. Auf einem Stuhl lagen ein Paar Strümpfe [461] und ein Straßenkleid; eine offene Puderdose stand auf dem Sekretär. Sie musste eben ausgegangen sein.
    Plötzlich klingelte das Telefon, er erschrak – und nahm den Hörer mit den Empfindungen eines Hochstaplers ab.
    »Hallo. Ist Mrs. Patch da?«
    »Nein, ich suche sie selbst. Wer ist da?«
    »Mr. Crawford.«
    »Mr. Patch am Apparat. Ich bin gerade überraschend eingetroffen und weiß nicht, wo sie ist.«
    »Oh.« Mr. Crawford klang leicht verblüfft. »Nun, ich denke, sie ist auf dem Waffenstillstandsball. Ich weiß, dass sie vorhatte auszugehen, aber ich dachte nicht, dass sie so früh gehen würde.«
    »Wo findet der Ball statt?«
    »Im Astor.«
    »Danke.«
    Anthony hängte

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