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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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von Einwänden, Koseworten und Kummer. Nach einer Seite ließ er ihn aus seiner schlaffen Hand gleiten und döste hinüber in ein nebulöses Hinterland, das allein ihm gehörte. Beim Weckruf wachte er mit hohem Fieber auf und wurde ohnmächtig, als er versuchte, das Zelt zu verlassen – am Mittag wurde er mit Grippe ins Lazarett des Stützpunkts eingeliefert.
    Er wusste, dass seine Krankheit schicksalhaft war. Sie [456] bewahrte ihn vor einem hysterischen Rückfall – und er genas gerade noch rechtzeitig, damit er an einem feuchten Novembertag einen Zug nach New York besteigen konnte, rechtzeitig für das endlose Gemetzel in Europa.
    Als das Regiment in Camp Mills, Long Island, ankam, kannte Anthony nur noch einen Gedanken: so bald wie möglich in die Stadt zu fahren, um Gloria zu besuchen. Inzwischen war es unzweifelhaft, dass innerhalb einer Woche ein Waffenstillstand unterzeichnet würde, doch lief das Gerücht um, dass auf jeden Fall bis zum letzten Augenblick Truppen nach Frankreich eingeschifft würden. Anthony entsetzte sich bei dem Gedanken an eine lange Schiffsreise, an eine umständliche Landung in einem französischen Hafen und daran, ein Jahr im Ausland festgehalten zu werden, womöglich um die Truppen abzulösen, die richtige Kämpfe erlebt hatten.
    Er hatte beabsichtigt, einen Antrag auf zwei Tage Urlaub zu stellen, doch zeigte sich, dass Camp Mills einer strengen Quarantäne für Grippekranke unterlag – selbst einem Offizier war es verwehrt, das Lager zu verlassen, es sei denn aus dienstlichen Gründen. Für einen gemeinen Soldaten kam es nicht in Frage.
    Das Lager selbst war ein trostloses Durcheinander, kalt, windgepeitscht und schmutzig, voll von dem Dreck, der sich ansammelt, wenn eine Division nach der anderen durchmarschiert. Ihr Zug kam eines Abends um sieben an, und bis eins warteten sie in Reih und Glied, während irgendwo vor ihnen ein militärisches Knäuel entwirrt wurde. Unablässig rannten Offiziere hin und her, bellten Befehle [457] und veranstalteten einen Höllenlärm. Es stellte sich heraus, dass der Stau mit einem Colonel zu tun hatte, der einen regelrechten Wutanfall erlitten hatte, weil er von der Militärakademie kam und der Krieg zu Ende gehen sollte, bevor er nach Übersee durfte. Hätten die kriegführenden Regierungen gewusst, wie vielen älteren Absolventen von West Point in dieser Woche das Herz brach, hätten sie das Blutbad zweifellos um einen Monat verlängert. Es war wirklich beklagenswert!
    Als Anthony über die öde Zeltstadt hinwegblickte, die sich im zertretenen Schneematsch kilometerlang in die Ferne erstreckte, sah er, wie unsinnig es war, in dieser Nacht zu einem Telefon stapfen zu wollen. Am nächsten Morgen würde er sie gleich als Erstes anrufen.
    Im bitterkalten Morgengrauen wurde er geweckt. Beim Morgenappell stand er stramm und hörte sich eine leidenschaftliche Tirade von Captain Dunning an:
    »Ihr Männer denkt wohl, der Krieg wäre vorbei. Ich will euch eins verraten: Das stimmt nicht! Diese Kerle werden den Waffenstillstand nicht unterschreiben. Es ist nur ein Trick, und wir wären schön verrückt, wenn wir uns hier in der Kompanie gehenlassen würden, denn eins will ich euch sagen: In einer Woche stechen wir in See, und dann erleben wir endlich mal richtige Kämpfe.« Er pausierte, damit sie die volle Wirkung seiner Mitteilung zu spüren bekamen. Dann: »Falls ihr glaubt, der Krieg wäre aus, braucht ihr bloß mal mit jemandem zu reden, der dabei war. Ob die glauben, dass die Deutschen fertig sind. Von wegen. Das glaubt doch keiner. Ich habe mit Leuten geredet, die sich auskennen, und die sagen, dass der Krieg auf jeden Fall noch [458] ein Jahr dauert. Die glauben nicht, dass er vorbei ist. Also, Männer, meint bloß nicht, er wäre aus.«
    Nachdem er diese letzte Ermahnung zweimal wiederholt hatte, ließ er die Kompanie abtreten.
    Mittags rannte Anthony zum nächsten Kantinentelefon. Als er sich sozusagen der Stadtmitte des Lagers näherte, bemerkte er, dass viele andere Soldaten ebenfalls rannten, dass ein Mann neben ihm plötzlich einen Luftsprung machte und die Hacken zusammenschlug. Da war ein allgemeiner Drang zu rennen, und aus aufgeregten kleinen Grüppchen stiegen Jubelrufe auf. Er blieb stehen und lauschte – über der kalten Landschaft ertönten Trillerpfeifen, und plötzlich brachen die Glocken der Kirchen von Garden City in schallendes Geläute aus.
    Anthony fing wieder an zu rennen. Jetzt waren die Rufe, die zusammen mit Atemwolken

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