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Die schönsten Dinge

Die schönsten Dinge

Titel: Die schönsten Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Toni Jordan
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mache, auf Beau zu hören, stelle ich mir Daniel als Huhn vor. Seine Haare könnten weiche braune Federn sein. Ich würde sie gerne noch einmal berühren, um zu sehen, ob sie sich weich oder struppig anfühlen.
    Ich setze mich im Schneidersitz auf die Decke, in die Nähe seines Kopfes, und streiche tatsächlich über seine Haut. Mit zwei Fingern ziehe ich ein paar Zentimeter tiefer den Schwung seines Kiefers nach, von den feinen Härchen im Nacken bis zu der weichen Stelle über dem Schlüsselbein. Dann noch einmal und noch einmal, meine Fingerspitzen brennen drei imaginäre Linien in seine Haut. Nach dem letzten Mal bleiben meine Finger liegen, als wollten sie seinen Puls fühlen. Seine Augen sind geschlossen. Er rührt sich nicht und scheint den Atem anzuhalten. Ich spüre nur noch die Bewegung meiner Finger und die warme Decke unter meinen Beinen.
    Â»Hier«, sage ich leise. »Als Embryo hatten Sie hier am Hals Branchialbogen.« Das ist alles ein Riesenfehler. Ich habe meinen ganz persönlichen Selbstzerstörungsknopf gefunden.
    Â»Als Embryo. Das ist ganz schön lange her. Ich kann mich kaum erinnern. Was sind Branchialbogen?«, fragt er.
    Â»Kiemenspalten.« Meine Hand, die jetzt wieder in meinem Schoß liegt, fühlt sich kalt an. Unvollständig. »Während des Wachstums sind sie gewandert. Der oberste Bogen hat sich zu Ihrem Unterkiefer und Teilen des Ohrs entwickelt.«
    Während ich rede, lasse ich die Hand wieder höher wandern. Dieses Mal folge ich mit dem Daumen der Kontur seines Kiefers bis zum Kinn, bevor ich ihn mit den Fingerrücken hinter dem Ohr berühre.
    Â»Aber das waren keine richtigen Kiemen«, sage ich. »Sie konnten kein Wasser atmen. Und es gibt diese Bögen nicht, weil Menschen von Fischen abstammen. Das tun sie nicht. Von Fischen abstammen, meine ich.«
    Wenn er zurückweichen will, eine Ausrede suchen oder nach dem Wein greifen, dann wird er es jetzt tun.
    Â»Ich konnte kein Wasser atmen. Und die Kiemenspalten gibt es nicht, weil wir von Fischen abstammen.« Er öffnet die Augen. Die Struktur seiner Haut brennt sich in mein Gedächtnis ein. Sie ist unerwartet rau, als würde er im Freien arbeiten statt vom Nichtstun leben.
    Â»Genau. Und hier.«
    Ich rücke näher. Jetzt sitze ich beinahe hinter ihm und kann sein Gesicht nicht sehen, was wahrscheinlich ganz gut ist. Ich hebe sein T -Shirt unten ein wenig an. Sein unterer Rücken liegt frei. Das wird er spüren – der Abend ist warm, aber es weht eine frische Brise. Er wird die Nachtluft auf der nackten Haut spüren. Ich drücke eine Hand flach auf sein Kreuz, nicht langsam und rhythmisch wie die Finger an seinem Hals, sondern fest, mit einer raschen Bewegung. Im Vergleich zur Luft und zu meiner Hand fühlt sich sein Rücken heiß an, und ich zucke leicht zurück. Meine Finger strecken sich zu seiner Hüfte und drücken sich leicht in die Seite. Sein Rücken ist glatt, ich wünschte, meine Hand könnte ewig dort liegen. Ich könnte ihn weiter berühren, auch wenn er sich bewegt. Plötzlich überkommt mich der Wunsch, ihn mit den Nägeln zu kratzen, die Finger zu krümmen und in seine Haut zu graben. Ich würde ihn gerne so festhalten, ihn dazu bringen, meinen Namen zu rufen.
    Â»Dieser Knochen am Ende der Wirbelsäule ist der Coccyx, das Steißbein«, raune ich ihm ins Ohr. »Hier hat Ihr Schwanz gesessen, als Sie ein Embryo waren.«
    Er holt tief Luft und atmet wieder aus. »Ich hatte einen Schwanz?«, fragt er.
    Ich atme sanft und passe mich seinem Rhythmus an, um ihn nicht zu stören. Meine Hand auf seinem Rücken ist unsere einzige Berührung. Plötzlich packt mich eine solche Erschöpfung, dass ich mich nicht mehr aufrecht halten kann, und ich lege mich hinter ihm auf die Seite, wie ein Spiegel, ein Echo.
    Â»Ja, Sie hatten einen Schwanz. Genau hier«, sage ich. »Aber nicht von irgendwelchen primitiven Vorfahren. Nicht, weil wir uns von Wesen mit Schwänzen weiterentwickelt haben. Sondern wegen des Bauplans unserer Körper, wegen der Ähnlichkeiten mit allen Wirbeltieren. Wir sind alle Tiere. Alle miteinander verbunden.«
    Â»Okay«, sagt er. »Schwanz nicht von den Vorfahren. Verstanden.«
    Der Wein, der Geruch seines Körpers, die kleinen Nackenhärchen, die sich unter meinem Atem bewegen. Mein Gesicht kribbelt. Jeden Moment wird er sich zu mir

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