Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
im Privatleben war er stets ein frohgelaunter, geistreicher und immer toleranter Gesellschafter mit formvollendeten Manieren – ein »bon enfant«, wie ihn sein Chef und dessen Frau nannten, in deren Hause er aus und ein ging.
In der Provinz unterhielt er ein Verhältnis zu einer Dame der Gesellschaft, die sich dem schneidigen jungen Juristen aufgedrängt hatte, und war außerdem mit einer Modistin eng befreundet; hin und wieder kam er auch zu Zechgelagen mit durchreisenden Flügeladjutanten, worauf man nach dem Abendessen in eine bestimmte entlegene Straße fuhr, und es gab auch eine gewisse Liebedienerei vor dem Chef und sogar vor dessen Frau. Doch all das vollzog sich in so dezenten, anständigen Formen, dass man es unmöglich mit hässlichen Worten benennen, sondern nur das französische Sprichwort zitieren konnte: »Il faut que jeunesse se passe.« All das geschah mit sauberen Händen, in sauberen Hemden, bei französischer Konversation und vor allem innerhalb der obersten Gesellschaftsschicht, das heißt also, mit Billigung hochstehender Persönlichkeiten.
Nachdem Iwan Iljitsch so fünf Jahre lang in der Gouvernementsverwaltung gearbeitet hatte, trat eine Änderung im Dienst ein. Es wurden neue Gerichtsinstitutionen eingeführt, und hierzu waren neue Menschen nötig.
Ein solcher neuer Mensch wurde auch Iwan Iljitsch. Ihm wurde der Posten eines Untersuchungsrichters angeboten, und er nahm ihn auch an, obwohl sich der neue Wirkungskreis in einem andern Gouvernement befand und er seine bisherigen Beziehungen aufgeben und sich um neue erst wieder bemühen musste. Seine Freunde gaben ihm das Geleit, es wurde eine Gruppenaufnahme gemacht, man überreichte ihm zum Andenken ein silbernes Zigarettenetui, und er trat die Reise zu dem neuen Ort seiner Tätigkeit an.
In seiner Stellung als Untersuchungsrichter blieb Iwan Iljitsch ebenso comme il faut, blieb er derselbe anständige Mensch, der er bisher gewesen war, ein Mensch, der dienstliche Pflichten und Privatleben voneinander zu trennen verstand und sich bei allen die gleiche Achtung verschaffte, deren er sich auch als Beamter für besondere Angelegenheiten erfreut hatte, zudem erschien ihm die Tätigkeit als Untersuchungsrichter bedeutend interessanter und reizvoller. In seiner früheren Stellung war es angenehm gewesen, in einem legeren, von Scharmer gefertigten Uniformjackett mit elastischen Schritten an den zitternd auf ihren Empfang harrenden Bittstellern vorüberzugehen und, begleitet von den neidischen Blicken der Kanzleibeamten, ohne weiteres in das Arbeitszimmer des Chefs zu verschwinden und mit ihm bei einem Glase Tee eine Zigarette zu rauchen; doch hatte es nur eine beschränkte Anzahl von Menschen gegeben, die unmittelbar von seiner Willkür abhingen. Zu diesen Menschen gehörten lediglich die Kreisrichter sowie die Mitglieder der Raskolniki-Bewegung. Wenn er auf seinen Dienstreisen mit ihnen zu tun hatte, behandelte er diese von ihm abhängigen Leute gern besonders höflich, ja fast kameradschaftlich und empfand eine Genugtuung, sie fühlen zu lassen, dass er, in dessen Macht es stand, sie zu vernichten, dennoch freundschaftlich, ohne Anmaßung mit ihnen umging. Aber mit solchen Leuten war er in seiner früheren Stellung nur wenig zusammengekommen. Jetzt hingegen, als Untersuchungsrichter, wusste er, dass sich alle, ohne Unterschied, und seien es auch noch so vornehme und selbstzufriedene Leute, in seiner Hand befanden und dass er nur ein paar Worte auf ein Amtsformular zu schreiben brauchte – und auch der vornehmste und selbstzufriedenste Herr würde ihm als Angeklagter oder Zeuge vorgeführt werden und müsste, vor ihm stehend, die an ihn gerichteten Fragen beantworten, wenn er ihn nicht großmütig zum Sitzen aufforderte. Iwan Iljitsch missbrauchte seine Machtbefugnisse nie, er war im Gegenteil darauf bedacht, sie in der Praxis möglichst milde zu handhaben; aber das Bewusstsein, im Besitz dieser Macht zu sein und die Möglichkeit zu haben, sie zu mildern, bildete für ihn das Hauptinteresse und den größten Reiz seiner jetzigen Stellung. Bei der Ausübung seines Dienstes und namentlich bei den Verhören machte es sich Iwan Iljitsch von vornherein zur Regel, alles auszuschalten, was nicht unmittelbar zur Sache gehörte, und die Protokolle so abzufassen, dass in ihnen selbst in den kompliziertesten Fällen ausschließlich der reine Sachverhalt ohne jede persönliche Stellungnahme seinerseits geschildert und vor allem aufs peinlichste die
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