Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Ungerechtigkeit, die ihm seines Erachtens widerfahren war, gar nichts Ungewöhnliches sahen. Selbst sein Vater hielt es nicht für seine Pflicht, ihm zu helfen. Er fühlte sich von allen im Stich gelassen, weil sie seine mit einem Gehalt von dreitausendfünfhundert Rubel dotierte Stellung für durchaus normal, ja sogar für einen Glücksfall ansahen. Er allein wusste, dass seine Stellung in Anbetracht der ihm widerfahrenen ungerechten Behandlung, der ewigen Sticheleien seiner Frau und der Schulden, die er machen musste, weil er über seine Verhältnisse lebte – er allein wusste, dass seine Lage keineswegs normal war.
Um die Unkosten des Lebensunterhalts etwas herabzudrücken, nahm er im Sommer dieses Jahres Urlaub und fuhr mit seiner Frau aufs Land zu ihrem Bruder, bei dem er mit ihr die Sommermonate zu verbringen gedachte.
Auf dem Lande, ohne Beschäftigung, fühlte sich Iwan Iljitsch zum ersten Male nicht nur gelangweilt, sondern auch sehr bedrückt; er kam zu der Erkenntnis, dass ein solches Leben unerträglich sei und dass er irgendwelche energischen Schritte unternehmen müsse.
Nach einer schlaflos verbrachten Nacht, in der Iwan Iljitsch die ganze Zeit auf der Terrasse auf und ab gegangen war, beschloss er, nach Petersburg zu fahren und sich – zur Strafe für jene Leute, die ihn nicht nach Gebühr zu schätzen wussten – um seine Versetzung in ein anderes Ministerium zu bemühen.
Am nächsten Tage trat er, trotz aller Versuche seiner Frau und des Schwagers, ihn zurückzuhalten, die Reise nach Petersburg an. Er unternahm sie einzig zu dem Zweck, sich einen Posten mit mindestens fünftausend Rubel Gehalt zu verschaffen. Welches Ministerium, welche Art von Beschäftigung und welches Aufgabengebiet es sein würden, war ihm jetzt gleichgültig. Es kam ihm lediglich auf eine Stellung an – sei es im Verwaltungsdienst, im Bankfach, bei der Eisenbahndirektion, in den unter dem Protektorat der Zarin Marija stehenden Institutionen, ja selbst beim Zoll –, durch die er seine Einkünfte auf fünftausend Rubel erhöhen konnte und aus dem Ministerium wegkäme, in dem man seine Tätigkeit so wenig zu würdigen verstand.
Nun, dieser Reise Iwan Iljitschs war ein erstaunlicher, alle Erwartungen übertreffender Erfolg beschieden. In Kursk bestieg F. S. Iljin, mit dem Iwan Iljitsch gut bekannt war, den Zug, setzte sich zu ihm in das Abteil erster Klasse und teilte ihm mit, beim Gouverneur in Kursk sei soeben ein Telegramm eingegangen, dem zufolge im Ministerium in den nächsten Tagen eine wichtige Veränderung erfolgen würde: Pjotr Iwanowitsch solle durch Iwan Semjonowitsch abgelöst werden.
Die erwartete Veränderung hatte, abgesehen von der Bedeutung, die sie für das ganze Land haben musste, für Iwan Iljitsch noch insofern eine besondere Bedeutung, als damit ein neuer Mann, Pjotr Petrowitsch, und höchstwahrscheinlich auch dessen Freund Sachar Iwanowitsch zu Spitzenstellungen kommen würden, was für Iwan Iljitsch überaus günstig war. Zu Sachar Iwanowitsch, der sein Studienkamerad gewesen war, unterhielt er freundschaftliche Beziehungen.
In Moskau bestätigte sich die Richtigkeit der Nachricht. Nach seiner Ankunft in Petersburg suchte Iwan Iljitsch daher sofort Sachar Iwanowitsch auf und erhielt von ihm die Zusicherung, dass man ihn mit einem höheren Posten im Justizministerium, demselben Ministerium also, dem er bislang unterstanden hatte, betrauen werde.
Eine Woche später telegraphierte Iwan Iljitsch an seine Frau: »Sachar an Stelle Millers beim ersten Rapport bekomme neuen Posten.«
Infolge der Umbesetzungen an den höchsten Stellen kam Iwan Iljitsch ganz unerwartet zu einem Posten, der ihn um zwei Rangstufen höherstellte als seine Altersgenossen und ihm fünftausend Rubel Gehalt einbrachte und außerdem dreitausend Rubel für Umzugskosten. Aller Ärger über seine früheren Feinde und über das ganze Ministerium war vergessen, Iwan Iljitsch fühlte sich überaus glücklich.
Aufs Land kehrte er so frohgelaunt und zufrieden zurück, wie er es schon lange nicht mehr gewesen war. Praskowja Fjodorowna geriet ebenfalls in fröhliche Stimmung, so dass es zwischen den Eheleuten zu einem Waffenstillstand kam. Iwan Iljitsch erzählte, wie ehrenvoll er in Petersburg behandelt worden sei, alle ihm bisher feindlich gesinnten Beamten hatten wie begossene Pudel dagestanden und vor ihm gekatzbuckelt, wie man ihn um seine neue Stellung beneidete und vor allem, welch allseitiger Beliebtheit er sich in Petersburg
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