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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sein Uniformjackett an und fuhr ins Gericht. Dort kam er sofort in das Getriebe, in das er jetzt eingespannt war und dem er sich bereits angepasst hatte – mit der Abfertigung von Bittstellern, Nachfragen in der Kanzlei, der Kanzleiarbeit selbst, öffentlichen und verwaltungstechnischen Sitzungen. Bei all diesen Dingen musste man verstehen, jegliche instinktiven, rein menschlichen Gefühle auszuschalten, durch die eine ordnungsgemäße Abwicklung der dienstlichen Angelegenheiten immer gestört wird. Man durfte zu den Menschen keine anderen Beziehungen unterhalten als dienstliche, das heißt, dem Verkehr mit ihnen musste ein dienstlicher Anlass zugrunde liegen, und der Verkehr selbst musste sich in dienstlichen Formen abspielen. Zum Beispiel: Es kommt ein Mann zu Iwan Iljitsch und bittet um eine Auskunft. In seiner bloßen Eigenschaft als Mensch kann Iwan Iljitsch zu diesem Besucher keinerlei Beziehungen haben; besteht hingegen zwischen dem Betreffenden und ihm als Amtsperson irgendeine Beziehung, eine solche, die sich auf einem Amtsbogen ausdrücken lässt, dann tut Iwan Iljitsch in den Grenzen seiner dienstlichen Möglichkeiten auch wirklich alles, was er irgend kann, um die Wünsche des Betreffenden zu erfüllen, und befleißigt sich dabei einer ausgesuchten Höflichkeit. Doch sobald die dienstliche Beziehung beendet ist, hört damit auch jede andere auf. Diese Fähigkeit, dienstliche Angelegenheiten und rein menschliche Gefühle auseinanderzuhalten, beherrschte Iwan Iljitsch ausgezeichnet und hatte sie dank seiner Begabung dafür und einer langen Praxis zu einem so hohen Grade entwickelt, dass er es sich, wie ein Virtuose, mitunter sogar erlaubte, gleichsam als Scherz, das rein Menschliche mit dem Dienstlichen zu vermischen. Er konnte sich das erlauben, weil er in sich die Kraft fühlte, jederzeit, sobald er es für notwendig hielt, wieder das Dienstliche hervorzukehren und die menschlichen Gefühle zu unterdrücken. Alles das erledigte Iwan Iljitsch leicht, reibungslos, korrekt, ja geradezu virtuos. In den Pausen rauchte er, trank Tee und unterhielt sich ein wenig über Politik und allgemeine Tagesfragen, ein wenig über Kartenspiele und am meisten über zu erwartende oder schon erfolgte Ernennungen. Ermüdet, doch mit dem Gefühl eines Virtuosen, der in einem Orchesterkonzert glänzend seinen Part als erster Geiger gespielt hat, kehrte er schließlich nach Hause zurück. Seine Frau und die Tochter waren dann irgendwohin ausgefahren oder hatten Besuch; der Sohn, der das Gymnasium besuchte, war unter Beistand von Nachhilfelehrern mit seinen Schulaufgaben beschäftigt und lernte gewissenhaft alles, was auf einem Gymnasium gelehrt wird. Alles war schön und gut. Nach dem Essen las Iwan Iljitsch, sofern keine Gäste da waren, zuweilen ein Buch, von dem gerade viel gesprochen wurde, und gegen Abend setzte er sich wieder an die Arbeit, das heißt, er sah Akten durch, schlug wegen der einen oder andern Frage in Gesetzbüchern nach, verglich die Aussagen und stellte fest, welche Gesetzesparagraphen in Betracht kamen. Diese Arbeit bereitete ihm weder Freude noch Verdruss. Verdrießlich wäre es gewesen, wenn er dadurch ein Whistspiel versäumt hätte; wenn es aber doch keine Gelegenheit zum Whistspiel gab, war das immerhin besser, als den Abend allein ohne Beschäftigung oder nur in Gesellschaft seiner Frau zu verbringen. Eine ausgesprochene Freude hingegen bereiteten Iwan Iljitsch die kleinen Diners, zu denen er wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit ihren Frauen einlud, wobei die Unterhaltung mit ihnen ganz der Art entsprach, in der sich solche Leute gewöhnlich die Zeit vertreiben, wie auch sein Salon allen anderen Salons glich.
    Einmal gaben sie sogar eine Abendgesellschaft mit Tanz. Die Sache machte Iwan Iljitsch große Freude, und alles wäre sehr schön gewesen, wenn es nicht zum Schluss einen argen Streit mit seiner Frau wegen der Torten und des Konfekts gegeben hätte. Praskowja Fjodorowna hatte wegen der Bewirtung ihren eigenen Plan, aber Iwan Iljitsch hatte darauf bestanden, alles von einem teuren Konditor zu beziehen, und hatte eine Menge Torten bestellt; und da nun von den Torten viel übrig geblieben war, die Rechnung des Konditors aber fünfundvierzig Rubel ausmachte, war es zu dem Streit gekommen. Die Auseinandersetzung verlief in sehr heftigen, drastischen Formen, bei denen Praskowja Fjodorowna ihren Mann einen »jämmerlichen Tropf« nannte. Iwan Iljitsch griff sich hierauf an den Kopf

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