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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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einmal in den Salon kam, entdeckte er auf dem polierten Tisch eine Schramme, die von einem scharfen Gegenstand verursacht sein musste. Er ging der Sache nach und stellte fest, die Schramme rührte von einem der Alben her, dessen Bronzebeschlag an einer Ecke umgebogen war. Als er nun das kostbare, von ihm mit Liebe zusammengestellte Album in die Hand nahm und darin blätterte, ärgerte er sich über die Unachtsamkeit seiner Tochter und ihrer Freunde: Hier war ein Blatt eingerissen, dort waren Bilder verkehrt eingesteckt. Er brachte das alles wieder sorgfältig in Ordnung und bog auch den Bronzebeschlag zurecht.
    Anschließend kam ihm der Gedanke, das Tischchen mit den Alben in eine andere Ecke, vor den Blumenständer, zu stellen. Er rief nach dem Diener, doch da kamen schon seine Frau und die Tochter hinzu; sie machten Einwände gegen die Umstellung, er beharrte auf seinem Willen und ereiferte sich. Aber das hatte das Gute, dass er dabei nicht an
ihn
dachte, dass
er
sich nicht zeigte.
    Doch als er sich dann anschickte, den Tisch selbst hinüberzuschaffen, und seine Frau sagte: »Lass das doch die Leute machen, du wirst dir noch einen Schaden zufügen!« – da tauchte hinter dem Schirm plötzlich wieder
er
auf.
Er
erschien nur für einen Augenblick, und Iwan Iljitsch hoffte noch,
er
werde gleich wieder verschwinden, achtete dabei aber ungewollt darauf, ob er an der Seite Schmerzen verspürte: Ja, da saß immer noch dasselbe Übel und nagte unvermindert an seinem Körper. Jetzt konnte er sich durch nichts mehr ablenken und sah deutlich, wie
er
zwischen den Blumen hindurch zu ihm herüberblickte. Wozu dann das alles?
    Sollte es wirklich so sein, dass ich an diesem Fenstervorhang wie bei einer Attacke im Krieg mein Leben verloren habe?, fragte sich Iwan Iljitsch. Ist so etwas denn möglich? Wie schrecklich, wie albern ist das! Das kann doch nicht sein! Es kann nicht sein und ist doch so.
    Iwan Iljitsch ging in sein Zimmer, legte sich nieder und war dort allein mit
ihm. Er
stand ihm Auge in Auge gegenüber und ließ sich nicht vertreiben. Iwan Iljitsch konnte nur
ihn
ansehen, und er erstarrte dabei vor Grauen.
    7
     
    Wie es im dritten Monat von Iwan Iljitschs Erkrankung so weit gekommen war, lässt sich schwer sagen, denn es hatte sich unmerklich, Schritt für Schritt vollzogen, doch war es jedenfalls Tatsache, dass alle, seine Frau, die Tochter und der Sohn, das Personal, die Bekannten, die Ärzte und vor allem er selbst sich darüber im Klaren waren, dass das ganze Interesse, das andere an ihm nahmen, nur noch darin bestand, ob er seinen Platz endlich räumen, die Lebenden von dem in seiner Gegenwart empfundenen Zwang und sich selbst von seinem Leiden befreien werde.
    Er schlief immer weniger; er bekam Opium und Morphiuminjektionen. Doch alles das brachte ihm nur vorübergehend Erleichterung. Das dumpfe, zehrende Gefühl, das er im Dämmerzustand empfand, wirkte sich nur zu Anfang, solange es noch etwas Neues war, schmerzlindernd aus, wurde dann aber ebenso qualvoll, wenn nicht noch ärger als die ungelinderten Schmerzen.
    Für ihn wurden auf Anordnung der Ärzte besondere Gerichte zubereitet; aber diese Gerichte schmeckten fade und wurden ihm mehr und mehr zuwider.
    Auch für die Verrichtung seiner Notdurft waren besondere Vorkehrungen getroffen worden, und der ganze Vorgang bedeutete für Iwan Iljitsch jedes Mal eine Qual. Das Peinliche dabei, die Unsauberkeit, den Geruch, die Tatsache, dass ihm dabei immer ein anderer Mensch behilflich sein musste – all das empfand er als quälend.
    Aber dennoch brachte gerade diese unangenehme Angelegenheit auch etwas Tröstliches, und zwar durch den Büfettdiener Gerassim, der jedes Mal zum Heraustragen des Geschirrs erschien.
    Gerassim war ein sauberer, frischer, bei der städtischen Kost kräftig gewordener Bauernbursche von offenem, stets fröhlichem Wesen. Anfangs wurde Iwan Iljitsch jedes Mal verlegen, wenn er diesen immer reinlich, auf volkstümlich russische Art gekleideten Burschen eine so widerwärtige Aufgabe verrichten sah.
    Einmal, als er sich vom Nachtstuhl erhoben hatte und zu schwach war, die Beinkleider hochzuziehen, ließ er sich in einen Polstersessel fallen und betrachtete voller Entsetzen seine entblößten kraftlosen Lenden, an denen sich deutlich jeder Muskel abzeichnete.
    In derben Stiefeln und um sich herum den von ihnen ausgehenden Teergeruch sowie den Duft frischer Winterluft verbreitend, kam mit leichten, festen Schritten Gerassim ins Zimmer; in

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