Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
ganz in der Ordnung, wenn er stirbt; aber bei mir, Iwan Iljitsch, dem einstigen Wanja, mit allen meinen Gefühlen und Gedanken, liegen die Dinge ganz anders. Es kann nicht sein, dass mir der Tod bestimmt ist. Das wäre ja entsetzlich.
Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
Wenn auch ich sterben müsste wie Cajus, dann wüsste ich das, eine innere Stimme würde es mir sagen; doch nichts davon trifft zu. Weder ich noch irgendeiner meiner Freunde hat die Sache so aufgefasst, dass für uns das Gleiche gelten sollte wie für Cajus. Und nun dieser Zustand!, dachte er voller Entsetzen. Es ist doch undenkbar, dass ich sterben muss. Es ist undenkbar und ist dennoch so. Wie geht das zu? Wie soll man das verstehen?
Er konnte keine Erklärung finden und bemühte sich, den Gedanken an den Tod als ein haltloses, krankhaftes Hirngespinst zu verscheuchen und ihn durch andere, vernünftige Gedanken zu verdrängen. Allein dieser Gedanke, und nicht nur der Gedanke, nein, auch die Wirklichkeit stellte sich immer wieder ein und marterte ihn.
Um diesen Gedanken loszuwerden, versuchte er, sich mit verschiedenen anderen Gedanken zu beschäftigen, und hoffte, dadurch einen Halt zu gewinnen. Er bemühte sich, frühere Gedankengänge wachzurufen, die ihm ehedem den Gedanken an den Tod verdeckt hatten. Doch unbegreiflicherweise war alles das, was in ihm früher das Bewusstsein des nahenden Todes verhüllt und ausgelöscht hatte, jetzt nicht mehr imstande, die gleiche Wirkung zu vollbringen. Dazu hatte sich Iwan Iljitsch in letzter Zeit allzu oft mit den Versuchen beschäftigt, die früheren Gefühlsregungen wieder zu erwecken, die den Gedanken an den Tod unterdrückt hatten. Mitunter sagte er sich: Ich will mich mit meinen dienstlichen Pflichten befassen, die ja immer den Inhalt meines Lebens ausgemacht haben. Und alle Sorgen abschüttelnd, begab er sich aufs Gericht, knüpfte ein Gespräch mit diesem und jenem Kollegen an, setzte sich auf seinen Platz, überschaute seiner alten Gewohnheit nach zerstreut, mit versonnenen Blicken, die Menschenmenge, beugte sich, die abgemagerten Hände auf die Armlehne des Eichensessels gestützt, wie gewöhnlich zu seinem Kollegen hinüber, schob ihm ein Aktenstück zu und wechselte mit ihm leise ein paar Worte, blickte dann plötzlich auf, setzte sich aufrecht hin und eröffnete mit der üblichen Redeformel die Sitzung. Doch plötzlich, während der Sitzung und ohne sich im Geringsten um den Stand der Verhandlungen zu kümmern, meldete sich der bekannte Schmerz an der Seite und saugte und nagte in seinem Innern. Iwan Iljitsch erschrak, bemühte sich, den Schmerz nicht zu beachten, aber der ließ nicht nach und setzte beharrlich sein Werk fort. Und dann erschien
er,
stellte sich unmittelbar vor ihm auf und sah ihn an; Iwan Iljitsch erstarrte, der Glanz in seinen Augen erlosch, und er fragte sich wieder: Ist
er
wirklich das Einzige, was unerschütterlich feststeht? Und seine Kollegen und Untergebenen nahmen mit Erstaunen und Bestürzung wahr, dass er, dieser feinsinnige, redegewandte Richter, häufig mitten im Satz stockte, dass ihm Fehler unterliefen. Er versuchte, sich zusammenzunehmen, war bemüht, sich wieder zu fassen, und leitete die Sitzung schlecht und recht bis zu Ende. Und nach Hause kehrte er dann zurück mit der bitteren Erkenntnis, dass seine dienstliche Tätigkeit ihm nicht mehr wie früher das verbergen konnte, was er sich nicht eingestehen wollte, und dass es ihm unmöglich war, sich durch die Ausübung seiner Amtspflichten von
ihm
zu befreien. Das Schrecklichste jedoch war, dass
er
nicht deshalb alle seine Gedanken auf sich lenkte, damit er dies oder jenes tun sollte, sondern nur, um ihn zu zwingen,
ihn
anzusehen,
ihm
unmittelbar ins Auge zu blicken und sich unsagbar zu quälen.
In dem Bemühen, sich aus diesem Zustand zu befreien, suchte und fand Iwan Iljitsch andere Schutzhüllen, die ihm für einige Zeit auch Erleichterung verschafften, die aber sehr bald, wenn auch nicht gerade zerstört, so doch durchsichtig wurden. Und hinter den Hüllen erschien dann wieder
er,
und es gab nichts, was
ihn
verdecken konnte.
Wenn Iwan Iljitsch in dieser letzten Zeit den Salon betrat – jenen von ihm persönlich ausgestatteten Salon, in dem er von der Leiter gestürzt war –, empfand er es jedes Mal als bitteren Hohn, dass er um dieser Ausstattung willen sein Leben geopfert hatte, denn seine Krankheit war ja, wie er wusste, eine Folge der damals bei dem Sturz erlittenen Verletzung. Als er wieder
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