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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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für berechtigt angesehene Lüge, dass er, wenn er auch krank sei, so doch keineswegs vor dem Tode stehe, dass er nur der Ruhe bedürfe und die Anordnungen der Ärzte befolgen müsse, um wieder völlig zu genesen. Und dabei wusste er doch, dass nichts, was immer man auch mit ihm anstellen würde, zu etwas anderem führen konnte als zu noch qualvolleren Leiden und zum Tode. Er litt unter dieser Heuchelei, es empörte ihn, dass niemand zugeben wollte, was alle wussten und auch er selbst wusste, sondern dass alle darauf bedacht waren, ihn heuchlerisch über seine furchtbare Lage hinwegzutäuschen, ja ihn sogar zwingen wollten, selbst an dieser Heuchelei teilzunehmen. Dieses Lügengewebe, mit dem man ihn angesichts seines nahenden Todes umgarnte, mit dem der schauerlich erhabene Akt des Todes auf das Niveau all jener Visiten herabgewürdigt wurde, bei denen man sich über Fenstervorhänge und über zum Mittagessen genossenen Stör unterhält – dieses Lügengewebe war für Iwan Iljitsch eine furchtbare Marter. Schon oft, wenn die Leute ihn mit ihren Heucheleien quälten, war er nahe daran gewesen, ihnen zuzurufen: Lasst doch endlich diese Heuchelei! Ihr wisst ja, und ich weiß es, dass ich im Sterben liege, da hört doch wenigstens mit euren Lügen auf! Aber er hatte kein einziges Mal den Mut dazu aufgebracht. Er sah, dass der furchtbare, grauenvolle Akt seines Hinsterbens von allen Menschen seiner Umgebung wie eine zufällige Unannehmlichkeit, wenn nicht gar wie etwas Unschickliches behandelt wurde – etwa so, wie man sich einem Menschen gegenüber verhält, der einen Salon betritt und einen unangenehmen Geruch verbreitet –, getreu denselben Anstandsregeln, die für ihn sein ganzes Leben lang oberstes Gesetz gewesen waren; er sah, dass niemand mit ihm Mitleid hatte, weil niemand seinen wahren Zustand erkennen wollte. Einzig Gerassim hatte seinen Zustand erkannt und bezeigte ihm Mitleid. Und deshalb war Gerassim auch der Einzige, in dessen Gesellschaft sich Iwan Iljitsch wohl fühlte. Er empfand es so wohltuend, wenn Gerassim, nachdem er ihm mitunter ganze Nächte hindurch die Beine gehalten hatte, sich immer noch weigerte, schlafen zu gehen, und sagte: »Belieben Sie sich nicht zu beunruhigen, Iwan Iljitsch, ich werde mich schon noch ausschlafen«, und manchmal, unvermittelt zum »Du« übergehend, hinzufügte: »Ja, wenn du nicht krank wärst, aber so – warum sollte ich da nicht zu Diensten sein?« Einzig Gerassim log nicht, und aus seinem ganzen Verhalten war zu sehen, dass er erkannt hatte, wie es um Iwan Iljitsch stand, und es nicht für nötig hielt, dies zu verhehlen, sondern einfach mit seinem dahinsiechenden, entkräfteten Herrn Mitleid empfand. Einmal, als Iwan Iljitsch ihm zuredete, schlafen zu gehen, sagte er es auch ganz offen: »Wir alle werden mal sterben. Warum sollte ich mich da nicht etwas für Sie bemühen?«, womit er zu verstehen gab, dass er all die Mühe gern auf sich nahm, weil sie eben einem Sterbenden galt und er die Hoffnung hegte, es würde sich jemand auch für ihn in seiner letzten Stunde so abmühen.
    Außer dieser Lüge oder im Zusammenhang mit ihr war es für Iwan Iljitsch am schmerzlichsten, dass ihm niemand so offenkundig herzliches Mitgefühl bezeigte, wie er es gewünscht hätte. Es gab Augenblicke, nachdem er stundenlang Schmerzen ausgestanden hatte, in denen er – obwohl er sich das nicht eingestehen wollte – den sehnlichen Wunsch hatte, gleich einem kranken Kind bemitleidet zu werden. Es verlangte ihn danach, dass man ihn streicheln, küssen und Tränen um ihn vergießen sollte, wie man kranke Kinder liebkost und tröstet. Er wusste, es war bei einem hohen Beamten, einem Mann, dessen Bart schon zu ergrauen begann, nicht angängig, aber dennoch sehnte er sich danach. Das Verhältnis zwischen ihm und Gerassim hatte etwas davon an sich, und deshalb empfand er den Umgang mit Gerassim als so wohltuend. Iwan Iljitsch hatte das Verlangen, sich auszuweinen, gehätschelt und bemitleidet zu werden, aber dann erschien Schebek, Mitglied des Obersten Gerichtshofs und ein Kollege von ihm, und statt zu weinen, setzte Iwan Iljitsch eine ernste, tiefsinnige Miene auf, erläuterte seine Meinung bezüglich einer vom Appellationsgericht gefällten Entscheidung und verfocht beharrlich seine Ansicht. Dieses Lügengewebe, das ihn umgarnte, trug am allermeisten dazu bei, ihm die letzten Tage seines Lebens zu vergiften.
    8
     
    Es war Morgen. Iwan Iljitsch merkte es lediglich daran, dass sich

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