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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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muss mich beruhigen, muss alles noch einmal von Anfang an überdenken… Und er rief sich den ganzen Verlauf seiner Krankheit ins Gedächtnis: Ja, so fing es an. Ich stieß mich an der Seite, nahm es aber nicht weiter tragisch und blieb unverändert guter Laune. Ich spürte zunächst nur einen leichten Schmerz, dann wurde er stärker; ich ging zu den Ärzten, aber mein Befinden verschlechterte sich weiter; ich wurde trübselig, wandte mich wieder an die Ärzte. Und dabei näherte ich mich immer mehr dem Abgrund. Meine Kräfte schwanden. Immer weiter und weiter ging es bergab. Und jetzt bin ich zusammengebrochen, das Licht in meinen Augen ist erloschen. Der Tod ist gekommen, und ich denke dabei an den Blinddarm. Ich sinne darüber nach, wie man den Blinddarm heilen kann, und stehe dabei vor dem Tode. Ist es wirklich der Tod?… Er wurde wieder von Grauen gepackt, geriet in Atemnot, beugte sich vor, um nach den Streichhölzern zu suchen, und stieß dabei mit dem Ellbogen gegen das Nachtschränkchen. Es störte ihn; er hatte sich an ihm weh getan, ärgerte sich, drückte in seiner Erregung noch heftiger gegen das Nachtschränkchen und warf es um. Verzweifelt, mühsam nach Atem ringend, sank er auf den Rücken zurück und war darauf gefasst, jeden Augenblick zu sterben.
    Die Gäste brachen gerade auf, und Praskowja Fjodorowna hatte sie ins Vorzimmer begleitet. Als sie das Gepolter hörte, kam sie zu ihm ins Zimmer.
    »Was hast du?«
    »Nichts weiter. Durch eine ungeschickte Bewegung habe ich das Nachtschränkchen umgestoßen.«
    Praskowja Fjodorowna ging hinaus und kam mit einer Kerze zurück. Ihr Mann lag im Bett, atmete so schwer und hastig wie jemand, der eine lange Strecke gelaufen ist, und sah sie mit starren Augen an.
    »Was ist dir, Jean?«
    »Gar-nichts. Das Nacht-schränk-chen ist umgefallen.« Wozu ihr viel erzählen?, dachte er. Sie würde ja auch nichts verstehen.
    Sie verstand auch wirklich nichts. Nachdem sie das Nachtschränkchen wieder hingestellt und die Kerze angezündet hatte, ging sie eilig hinaus: sie musste noch die Gäste verabschieden.
    Als sie zurückkam, lag er noch immer auf dem Rücken und starrte nach oben.
    »Was ist mit dir? Geht es dir schlechter?«
    »Ja.«
    Sie schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihm. »Weißt du, Jean, ich meine, wir sollten Lestschetizki kommen lassen.«
    Den berühmten Arzt um einen Hausbesuch bitten, das bedeutete, selbst vor großen Kosten nicht zurückzuscheuen. Er lächelte giftig und sagte, es sei nicht nötig. Nachdem sie noch eine Weile bei ihm gesessen hatte, trat sie an ihn heran und küsste ihn auf die Stirn.
    Er hasste sie aus tiefster Seele bei diesem Kuss und musste seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um sie nicht zurückzustoßen.
    »Gute Nacht! Gebe Gott, dass du schlafen kannst.«
    »Ja, ja.«
    6
     
    Iwan Iljitsch ahnte, dass es mit ihm zu Ende ging, und befand sich in einem Zustand ununterbrochener Verzweiflung.
    Im Grunde seiner Seele wusste er, dass er sterben musste, hatte sich aber noch nicht an diese Tatsache gewöhnt und konnte sich auf keine Weise damit abfinden.
    Jenes Beispiel eines Syllogismus, das er in der Logik von Kiesewetter gelernt hatte und das da lautete, Cajus sei ein Mensch, die Menschen seien sterblich, und demnach sei auch Cajus sterblich – dieser Syllogismus war Iwan Iljitsch sein ganzes Leben lang nur in Bezug auf Cajus als richtig erschienen, keineswegs hingegen in Bezug auf sich selbst. Cajus war der Mensch ganz allgemein, und für ihn traf jene Folgerung durchaus zu. Er, Iwan Iljitsch, aber war nicht Cajus, war nicht ein x-beliebiger Mensch, sondern hatte von Geburt an seine besondere, ihn von allen andern Menschen unterscheidende Eigenart gehabt: Er war Wanja mit seiner Mama und dem Papa, mit Mitja und Wolodja, mit seinem Spielzeug, dem Kutscher, der Kinderfrau und später mit Katenka, mit allen Freuden und Kümmernissen, mit der ganzen Begeisterungsfähigkeit der Kindheit, der Knabenjahre und Jugend. Hatte Cajus etwa den Geruch des gestreiften Lederballs gekannt, der ihm als kleinem Jungen so lieb gewesen war? Hatte Cajus etwa der Mutter ebenso die Hand geküsst und beim Rascheln ihres seidenen Kleides das Gleiche empfunden wie er in seiner Kindheit? Ist es etwa Cajus gewesen, der am Institut für Rechtswissenschaften den Aufruhr wegen der Pasteten angestiftet hatte? Ist etwa Cajus jemals so verliebt gewesen wie er? Ist etwa Cajus imstande, eine Sitzung zu leiten?
    Ja, Cajus ist wirklich sterblich, und es ist

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