Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
sofort an den Schreibtisch. Er studierte Akten, vertiefte sich in die Arbeit, doch im Unterbewusstsein blieb ihm dabei immer gegenwärtig, dass er sich hinterher noch mit einer wichtigen, ihn persönlich betreffenden Angelegenheit befassen musste. Als er alle Akten durchstudiert hatte, erinnerte er sich, dass es sich bei jener wichtigen Angelegenheit darum handelte, Überlegungen über den Zustand seines Blinddarms anzustellen. Aber er verschob dieses Vorhaben erneut und begab sich in den Salon zum Tee. Es waren Gäste erschienen, man unterhielt sich, es wurde Klavier gespielt und gesungen; auch jener Untersuchungsrichter, der von Iwan Iljitsch und seiner Frau erwünschte Freier um ihre Tochter, war zugegen. Iwan Iljitsch war an diesem Abend, wie es Praskowja Fjodorowna erschien, in fröhlicherer Stimmung als sonst, doch vergaß er keinen Augenblick, dass ihm noch die Überlegungen über seinen Blinddarm bevorstanden. Um elf Uhr verabschiedete er sich und zog sich zurück. Seit seiner Erkrankung schlief er allein in einem kleinen Nebenraum seines Arbeitszimmers. Er trat ein, zog sich aus und nahm einen Roman von Zola zur Hand, las aber nicht, sondern war mit anderen Gedanken beschäftigt. In seiner Phantasie malte er sich aus, wie die ersehnte Genesung seines Blinddarms vor sich ging. Da wurde irgendetwas eingesogen, etwas anderes ausgeschieden und auf diese Weise die normale Funktion des Blinddarms wiederhergestellt. Ja, das geht alles seinen Gang, dachte er, man muss der Natur nur nachhelfen! Er erinnerte sich seiner Medizin, richtete sich auf, nahm sie ein, legte sich auf den Rücken und gab acht, wie wohltuend die Medizin wirkte und den Schmerz stillte. Ich muss sie nur regelmäßig einnehmen und mich vor schädlichen Einflüssen hüten, dachte er. Schon jetzt fühle ich mich etwas, ja sogar erheblich besser … Er betastete die Stelle, von der immer der Schmerz ausging. Bei der Berührung tat sie jetzt nicht weh. Nein, sie schmerzt nicht mehr, dachte er, es ist wirklich schon eine wesentliche Besserung eingetreten … Er löschte die Kerze und drehte sich auf die Seite. Ja, der Blinddarm kommt wieder in Ordnung, saugt sich voll. Doch jählings verspürte er wieder den alten dumpfen, quälenden Schmerz, dieses beharrliche, stille und drohende Nagen in seinem Körper. Und auch im Mund hatte er abermals jenen widerwärtigen Geschmack. Sein Herz krampfte sich zusammen, ihm wurde schwarz vor Augen. »Oh, mein Gott, mein Gott!«, stammelte er. »Immer wieder ist es dasselbe und hört niemals auf.« Und auf einmal stellte sich ihm sein Leiden von einer ganz anderen Seite dar. Der Blinddarm! Eine Niere! Nein, weder um den Blinddarm noch um eine Niere geht es hier, sondern um das Leben und… den Tod! Ja, das Leben, das in mir war, schwindet immer mehr dahin, und ich kann es nicht aufhalten. Wozu soll ich mich selbst täuschen? Sehen außer mir nicht alle schon längst, dass ich dahinsieche und dass es sich nur darum handelt, wie viel Wochen, wie viel Tage es noch dauern wird oder ob das Ende schon unmittelbar bevorsteht? Bis jetzt war Licht um mich, bald wird es Finsternis sein. Bis jetzt bin ich hier gewesen, nun werde ich dorthin gezogen. Wohin? … Er schauerte zusammen, sein Atem setzte aus. Nur das Hämmern seines Herzens hörte er.
Wenn ich nicht mehr bin, was wird dann sein? Nichts wird sein. Ja, wo werde ich denn sein, wenn ich nicht mehr bin? Muss ich wirklich sterben? Nein, ich will nicht!… Er richtete sich auf, wollte die Kerze anzünden, scharrte mit zitternden Händen auf dem Nachttisch herum, die dabei umgestoßene Kerze fiel samt dem Leuchter auf den Fußboden, und er sank in die Kissen zurück. Wozu mühe ich mich noch ab? Es lässt sich ja doch nichts ändern, dachte er und starrte in die Finsternis. Der Tod kommt. Ja, der Tod. Aber von denen dort weiß es niemand und will es niemand wissen, niemand hat Mitleid mit mir. Sie musizieren, dachte er, als er aus den anderen Zimmern Gesang und Klavierakkorde herüberschallen hörte. Ihnen ist alles gleichgültig, und doch werden auch sie einmal sterben. Diese Narren! Mir ist es früher, ihnen später beschieden, aber dem Tod entgeht niemand. Aber sie sind vergnügt. Hornvieh!… Seine Wut nahm ihm den Atem. Von Schmerzen gequält, wurde ihm unerträglich schwer ums Herz. Es ist doch nicht möglich, dachte er, dass alle stets ohne Unterschied zu solcher Furcht verurteilt waren …
Er richtete sich wieder auf. Irgendetwas stimmt da nicht, sagte er sich. Ich
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