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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Prachtkerl ist er dennoch, ein wahrer Prachtkerl‹, wiederholte immer wieder ein jeder, der mich zu Gesicht bekam.
    Bis zum Frühling hausten wir im Stall der Mutterstuten, wo jedes Füllen mit seiner Mutter getrennt von den andern untergebracht war, und erst als der Schnee auf den Dächern der Ställe in der Sonne zu schmelzen begann, wurden wir ab und zu auf den großen, mit frischem Stroh ausgelegten Hof hinausgelassen. Dort kam ich erstmalig mit allen meinen Verwandten zusammen, den nahen sowohl als auch den entfernteren. Ich sah, wie all die berühmten Stuten jener Zeit mit ihren kleinen Fohlen aus den verschiedenen Türen herauskamen. Die alte Golanka war darunter, ferner Muschka, eine Tochter Smetankas, Krasnucha, das Reitpferd Dobrochoticha – lauter Berühmtheiten jener Zeit, die dort allesamt mit ihren jüngsten Fohlen zusammenkamen, in der Sonne umherspazierten, sich im frischen Stroh wälzten und sich gegenseitig beschnupperten, wie es auch gewöhnliche Pferde tun. Den Anblick jenes Gestütshofes, angefüllt mit den prächtigsten Pferden jener Zeit, kann ich bis heute nicht vergessen. Ihr könnt es wohl kaum glauben und euch nicht vorstellen, dass auch ich einmal jung und ausgelassen gewesen bin, und doch war es so. Dort befand sich auch unsere Wjasopuricha, die damals noch ein einjähriges, ein liebes, munteres und flinkes Pferdchen mit kurz geschorener Mähne war; aber wenn sie jetzt auch wegen ihres Geblüts unter euch als etwas Außergewöhnliches angesehen wird, so muss ich, ohne ihren Ruhm irgendwie schmälern zu wollen, dennoch sagen, dass sie seinerzeit eins der schlechtesten Pferde der damaligen Zucht war. Das wird sie auch selbst bestätigen.
    Meine Scheckigkeit, die bei den Menschen solchen Abscheu erregte, fand unter den Pferden allgemeines, außerordentliches Gefallen; sie umringten mich alle, bewunderten mich und wollten mit mir spielen. Ich vergaß allmählich schon, was die Menschen über meine Scheckigkeit gesagt hatten, und fühlte mich glücklich. Doch bald lernte ich in meinem Leben den ersten Kummer kennen, und der Grund dazu war meine Mutter. Als die Schneeschmelze begann, die Spatzen unter den Schutzdächern zwitscherten und in der Luft immer stärker der Frühling spürbar wurde, änderte meine Mutter ihr Verhalten zu mir. Ihre ganze Wesensart war anders geworden: Bald begann sie plötzlich ohne jeden Anlass auf dem Hof umherzulaufen und zu spielen, was gar nicht zu ihrem gesetzten Alter passte; bald versank sie in Gedanken und wieherte; bald schlug sie gegen ihre Geschwister, die andern Stuten, mit den Hinterbeinen aus und biss sie; bald beschnupperte sie mich und schnaufte unzufrieden, oder sie legte, wenn wir in die Sonne herauskamen, den Kopf auf die Schultern Kuptschichas, ihrer Kusine, wobei sie sich lange nachdenklich an ihrem Rücken rieb und mich zurückstieß, wenn ich saugen wollte. Einmal kam der Stallmeister zu uns, befahl, ihr ein Halfter anzulegen, und ließ sie aus der Box führen. Sie begann zu wiehern, ich antwortete und wollte ihr nachstürzen; aber sie drehte sich nicht einmal nach mir um. Der Stallknecht Taras ergriff mich und hielt mich mit beiden Armen fest, während die Tür hinter meiner Mutter geschlossen wurde. Ich schlug um mich und warf den Stallknecht ins Stroh; aber die Tür war verschlossen, und ich hörte nur noch das aus immer größerer Ferne herüberschallende Wiehern meiner Mutter. Aber aus ihrem Gewieher hörte ich nunmehr kein Rufen nach mir heraus, es klang ganz anders. Es wurde in der Ferne von einer machtvollen Stimme erwidert – der Stimme Dobrys I., wie ich später erfuhr, den zwei Stallknechte zu einer Begegnung mit meiner Mutter führten. Wie Taras die Box verlassen hat, weiß ich nicht mehr; es war mir zu schwer ums Herz. Ich fühlte, dass ich die Liebe meiner Mutter für immer verloren hatte. Und alles kommt davon, dass ich scheckig bin, dachte ich, als ich mir die Äußerungen der Menschen über mein Fell ins Gedächtnis rief, und wurde dabei von einem solchen Ingrimm ergriffen, dass ich mit dem Kopf und den Knien gegen die Wände der Box zu schlagen begann – und so lange schlug, bis ich in Schweiß gebadet war und vor Erschöpfung innehielt.
    Nach einiger Zeit kehrte meine Mutter zu mir zurück. Ich hörte, wie sie in leichtem Trab, einer für sie ganz ungewöhnlichen Gangart, über den Korridor auf unsere Box zugelaufen kam. Man machte ihr die Tür auf, und ich erkannte sie kaum wieder: so verjüngt und verschönt hatte sie

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