Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
sich. Sie beschnupperte mich, schnaufte und wieherte mürrisch. An ihrem ganzen Gebaren merkte ich, dass sie mich nicht mehr liebte. Sie erzählte mir von der Schönheit Dobrys und von ihrer Liebe zu ihm. Ihre Zusammenkünfte mit ihm wiederholten sich, und das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter erkaltete mehr und mehr.
Bald darauf wurden wir auf die Weide hinausgelassen. Von nun an lernte ich neue Freuden kennen, die mir die verlorene Liebe meiner Mutter ersetzten. Ich hatte Freundinnen und Kameraden, wir lernten gemeinsam Gras fressen, ebenso zu wiehern wie die Großen und mit erhobenem Schweif um unsere Mütter herumzugaloppieren. Das war eine glückliche Zeit. Mir wurde alles verziehen, alle hatten mich lieb, fanden Wohlgefallen an mir und nahmen alles, was immer ich auch tat, mit Nachsicht auf. Doch das währte nicht lange. Denn bald ereignete sich etwas Entsetzliches mit mir . . .«
Der Wallach stieß einen schweren, tiefen Seufzer aus und verließ den Kreis der Pferde. Im Osten hatte sich der Himmel schon lange rot gefärbt. Das Tor knarrte, und Nester kam herein. Die Pferde zerstreuten sich. Der Hirt rückte auf dem Wallach den Sattel zurecht und trieb die Herde ins Freie.
6
Die zweite Nacht
Sobald die Pferde abends wieder nach Hause getrieben waren, scharten sie sich erneut um den Wallach.
»Im August wurden ich und meine Mutter voneinander getrennt«, nahm der Wallach seine Erzählung wieder auf, »aber besonders betrübt war ich deswegen nicht. Ich sah, dass meine Mutter damals bereits meinen jüngeren Bruder, den berühmten Ussan, unter dem Herzen trug und dass ich für sie nicht mehr dasselbe bedeutete wie früher. Eifersüchtig war ich nicht, empfand jedoch, dass mein Gefühl für sie kälter geworden war. Zudem wusste ich, dass ich nach der Trennung von der Mutter in den Gemeinschaftsstall für Füllen kommen sollte, in dem sie zu zweien und zu dreien standen und von wo die ganze junge Horde täglich gemeinsam ins Freie hinausgelassen wurde. Ich stand in einer Box mit Mily. Mily war ein Reitpferd, auf dem späterhin der Zar geritten ist und das auf Bildern und in Statuen dargestellt ist. Damals war er noch ein gewöhnliches junges Füllen mit zartem, glänzendem Fell, einem Schwanenhals und Beinen, die so gerade und dünn waren wie Saiten. Er war ein gutmütiges, freundliches Tier, war allezeit vergnügt und bereit zu spielen, sich mit andern Pferden zu belecken oder mit irgendeinem Pferd oder Menschen seine Scherze zu treiben. Es ergab sich ganz von selbst, dass wir während unseres Zusammenlebens Freundschaft schlossen, eine Freundschaft, die unsere ganze Jugend über fortgedauert hat. Er war heiter und leichtsinnig veranlagt. Schon damals fing er Liebschaften an, schäkerte mit den Stuten und machte sich über meine Unschuld lustig. Zu meinem Unglück begann ich, ihm aus Ehrgeiz nachzueifern, und geriet sehr bald in den Bann der Liebe. Dass ich mich ihr so frühzeitig hingab, führte dann zu der verhängnisvollsten Wende in meinem Schicksal. Das geschah folgendermaßen.
Wjasopuricha war ein Jahr älter als ich, und wir beide waren besonders gut befreundet. Gegen Ende des Herbstes bemerkte ich jedoch, dass sie mich zu meiden trachtete… Doch ich will jetzt nicht die ganze unselige Geschichte meiner ersten Liebe erzählen; Wjasopuricha wird sich selbst noch meiner wahnwitzigen Leidenschaft erinnern, die für mich mit der schwerwiegendsten Veränderung in meinem Leben endete. Die Stallknechte stürzten auf uns zu, trieben sie von mir fort und schlugen mich. Abends wurde ich in eine Einzelbox gesperrt. Ich wieherte die ganze Nacht hindurch, als hätte ich schon vorausgeahnt, was sich am folgenden Tag zutragen würde.
Morgens erschienen im Korridor vor meiner Box der General, der Stallmeister, die Stallknechte und die Pferdehirten, und es entstand ein furchtbares Gezeter. Der General schrie den Stallmeister an, und dieser rechtfertigte sich, indem er sagte, er habe nicht die Anweisung gegeben, mich hinauszulassen, das hätten die Stallknechte eigenmächtig getan. Der General erklärte, dass er sie allesamt verprügeln werde und dass man junge Hengste nicht halten könne. Der Stallmeister versprach, alles Nötige zu veranlassen. Hierauf beruhigten sie sich und gingen. Ich wurde aus alldem nicht klug, merkte jedoch, dass man irgendetwas mit mir vorhatte…
Am nächsten Tage hörte ich für immer zu wiehern auf und wurde zu dem, was ich jetzt bin. Die ganze Welt hatte sich in meinen
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