Die schoensten Weihnachtsgeschichten
und hatte sich die eiskalten Füße auf den bloßen warmen Leib gesetzt. So hatten sie sich gegenüber gesessen, Mutter und Tochter, und keine fünf Minuten, da waren die Baberbeinchen warm und die Schmerzen vergangen.
So war das damals gewesen, so hatte es die Mutti erzählt, und »Baberbeinchen« hatte die Große wiederholt, »Baberbeinchen« mit der Liebe, die alle Kinder für solche zärtlich-liebevollen Benennungen haben. Es war ein Erlebnis von vielen Erlebnissen, das die Mutti erzählt hatte, es gab viel Zeit zum Erzählen in diesen Wintertagen 1945, weil sie es oft nicht warm hatten und darum früh ins Bett gingen. Diese Geschichte aber hatte gehaftet von vielen, sie war leichter behalten worden von der Großen als die »Jahre«, die man unbedingt außer der»Sechs« angeben mußte, sonst dachten ja die Leute, man war sechs Kartoffeln alt.
Also mit dem Herzen gehört und im Herzen behalten, und dann kam der große Schneefall, und wie alle Kinder freute sich die Große über den Schnee und spielte mit ihm und begleitete an diesem Tage die Mutti nicht auf ihren Einkäufen. Aber dann, als die Mutti zurückkam, und der Schnee wurde schon – wie immer in Berlin – zu Matsch, dann ging die Mutti schnell und ein bißchen blaß an den kleinen Eisenofen, legte noch etwas auf (sie hatte sich grade am Abend zuvor eine Art Briketts aus nassem Zeitungspapier zurechtgemacht), und als der Ofen ein wenig Wärme ausstrahlte, zog sie Schuh und Strümpfe aus und hielt die Füße gegen den Ofen.
»Frieren dir die Füße, Mutti?« fragte die Große. Die Mutter lächelte nur. »Die Baberbeinchen …«, sagte die Große gedankenvoll. Und dann nicht ohne Vorwurf: »Aber du hättest dir auch deine Lederschuhe anziehen müssen, Mutti, bei solchem Schnee!«
»Große!« antwortete die Mutti nur vorwurfsvoll.
»Na ja«, sagte die Große überlegen. »Solches Wetter und dann deine Sommerschuhe, nur eine dünne Sohle und ein paar Bändchen über den Fuß.«
»Große!« wiederholte die Mutti mit mehr Nachdruck.
»Na ja …«, wollte die Große wieder anfangen. Aber dann fiel ihr ein, daß ja Muttis einzige Lederschuhe schon manche Woche beim Schuster waren und daß die Mutti nur noch diese leichten Sommerschuhe besaß, die vor nichts schützten. Mit den dünnen Strümpfen liefdie Mutti durch den eisigen und immer matschiger werdenden Schnee.
»Ach, meine arme Baberbeinchen-Mutti!« rief die Große und drückte den Kopf fest gegen die Mutter. Dann drohend: »Morgen gehen wir aber zum Schuster!«
Die Mutti blickte zweifelnd, als verspräche sie sich nicht viel von dem Weg, aber die Große erinnerte: »Er hat es dir doch fest versprochen, und du hast ihm Mehl und Zucker dafür gegeben!« (Sie hatte es nicht vergessen, daß sie sich dieses Mehl und den Zucker sauer genug abgespart hatten.)
Aber die Mutti behielt mit ihrem Zweifel recht: Der Schuster war besten Willens und voll Bedauern, aber er hatte eben kein Schnitzelchen Leder. »Ich würde sie Ihnen ja gleich machen, Frau Irmler, man hält auch gerne sein Wort, aber wo ich doch kein bißchen Leder bekomme, nun schon ein Jahr nicht! Bringen Sie mir doch ein Stückchen Leder, einen Gürtel oder am besten ein Soldatenkoppel – ich mache Ihnen sofort Sohlen daraus!«
Die Große hatte mit weit offenen dunklen Augen den Meister bei seinen Beteuerungen angesehen, und am liebsten hätte sie dem Schuster wohl bedeutet, das hätte er der Mutti sagen müssen, ehe er Mehl und Zucker nahm.
Aber sie hatte geschwiegen, vielleicht in der Hoffnung, daß die Mutti doch zu Haus noch ein Stück Leder fand. »Aber wo soll denn etwas sein, Große?« hatte die Mutti auf deren Drängen zu Haus gefragt. »Du weißt doch, wir haben gar nichts. Und ein Lederkoppel – ach, du lieberGott, wo sollen wir das denn hernehmen? Das schenkt uns keiner, und der Papa ist auch schon so lange fort.«
Die letzten Worte schlossen der Großen den Mund, und schweigend sah sie zu, wie die Mutti die dünnen Strümpfe zum Trocknen aufhing. Sie schwieg überhaupt viel diese Tage, drei, dann nur noch zwei Wochen vor dem Weihnachtsfest – obwohl die Mutti in dieser Zeit immer mehr zu einer Baberbeinchen-Mutti wurde. Denn es kam noch mehr Schnee und stärkerer Frost, und dann eines Tages kam ganz plötzlich Tauwetter – und alles wurde zu Glatteis und Matsch.
Die Große ging neben der Mutter und sah die braunen Strümpfe schon nach wenigen Minuten schwarz werden vor Nässe, und die schwarzen Flecke breiteten sich aus
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