Die Schokoladendiät
«Ich will auf die Schaukel.»
«Das lässt sich einrichten.»
Lewis sprang ausgelassen herum. Vielleicht war er von der vielen Schokolade schon ein bisschen hyperaktiv. Sie würde sie ein bisschen vorsichtiger dosieren müssen. Warum bekam sie nur von Schokolade nicht denselben Energieschub wie ein Vierjähriger? Sie hätte ein bisschen zusätzliche Power gut gebrauchen können.
Auf dem Spielplatz probierte Lewis zuerst das Klettergerüst aus. Dann rief er: «Komm mit mir aufs Karussell, Tante Chantal.»
«Nein, das kann ich nicht.»
«Doch», sagte Lewis. «Es ist lustig. Ich passe auf dich auf.»
Chantal schaute sich um. Der Spielplatz war leer. Niemand würde sie sehen. Ach, was soll’s. Sie sprang neben Lewis auf, und brachte das Karussell in Schwung. Die Luft zischte an ihnen vorbei, die Blätter an den Bäumen verschwammen, und Lewis kreischte vor Freude. War sie seit ihrer Kindheit je wieder auf einem Kinderspielplatz gewesen? Chantal war sich nicht sicher. Es war toll, den Wind in den Haaren zu spüren. Sie schaute in Lewis’ begeistertes Gesicht. Sie konnte das. Sie war sich sicher. Sie konnteMutter sein – und es genießen. Eines Tages würde sie mit ihren eigenen Kindern auf den Spielplatz gehen. Sie legte die Hand auf Lewis’ Hand.
«Du brauchst keine Angst zu haben», rief er.
Nein, sie würde keine Angst haben.
Als ihnen auf dem Karussell ganz schwindlig geworden war, lief Lewis zur Schaukel.
«Schubs mich ganz fest an», bat er. «Ich will ganz ganz hoch!»
Chantal kam seinem Wunsch nach und ließ ihn hoch durch die Luft segeln, und er strampelte vor Freude mit den Beinen. Sie hoffte, dass Nadia ihre Technik gutheißen würde. «Ich glaube, das reicht für heute», beschloss sie dann und ließ die Schaukel ausschwingen.
Als sie nur noch sanft vor und zurück schwang, quetschte sich Chantal auf die Schaukel neben Lewis. Der Sitz war ziemlich eng für ihren Po, der sich zusammen mit ihrem Bauch ordentlich ausdehnte.
«Tante Chantal», sagte Lewis ernst. «Hast du immer noch ein Baby im Bauch?»
Sie wandte sich ihm zu und grinste. «Sicher.»
Lewis steckte den Daumen in den Mund und nuckelte nachdenklich daran. «Ich glaub, du wirst eine tolle Mami», nuschelte er.
«Danke.» Ja, sie konnte es. Gab es einen besseren Beweis? Eine Träne stieg ihr ins Auge, und sie beugte sich zu Lewis, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. «Ich glaube, so etwas Nettes hat noch nie jemand zu mir gesagt.»
40
Das
Taxi fuhr Nadia über den Strip. Auf beiden Seiten der Amüsiermeile priesen die protzigen Hotels aufdringlich ihre Angebote an. Die Stadt kam ihr vor wie eine Bonsai-Version der Welt – Ägypten, Paris, New York, Venedig und das alte Rom, alles eng zusammengerückt für Menschen, die wohl keine Lust hatten, an die echten Orte zu reisen. Zu einem anderen Zeitpunkt oder unter anderen Umständen hätte Nadia sich vielleicht sogar auf das geschmacklose Vibrieren dieses Ortes eingelassen, denn er strahlte durchaus eine gewisse Energie aus. Doch im Augenblick konnte sie nur an die Gefahren denken, die hinter den glitzernden Werbetafeln für Shows, Tänzerinnen und billige Büfetts auf ihren Mann lauerten.
Nadias Hotel lag nicht auf dem Strip, sondern einige Blocks dahinter, und die Atmosphäre hätte unterschiedlicher nicht sein können. Hier bemühte man sich nicht einmal mehr um einen Anstrich von Prunk. Das preisgünstige Motel war ziemlich mitgenommen. Die Leuchtschrift GÜNSTIGES MOTEL war wohl schon vor langer Zeit erloschen, und es schien, als hätte niemand je Anstalten gemacht, sie zu reparieren. Das war offensichtlich das Maß an Sorgfalt, das man bei einem billigen Motel erwartenkonnte. Stil, Sauberkeit und Charme waren im Preis nicht inbegriffen. Das Wasser in dem winzigen Swimmingpool war leicht grünlich und erschien wie ein Gesundheitsrisiko – doch die Gäste, die hier abstiegen, kamen auch nicht zum Entspannen hierher. Genauso wenig wie Nadia.
Es war früher Nachmittag, als sie eincheckte, und draußen brannte die Sonne bei neununddreißig Grad. Selbst in der abgedunkelten Hotellobby saßen zahlreiche Menschen an Spielautomaten, die unablässig vor sich hin piepten, rasselten und blinkten. Rentner mit schäbigen Töpfchen voll Kleingeld in den altersfleckigen Händen saßen auf Hockern und fütterten unerbittlich Münzen in die Metallschlünde, ohne je etwas zu gewinnen. Nadia traute ihren Augen kaum. Das hier war womöglich der deprimierendste Ort auf der
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