Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung - Soboczynski, A: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
Häuserwänden, Kirchen, durch deren Dächer es geregnet hatte, Kohleöfen in
manchen Wohnungen, ganz wie im Osten. Aber es wurde gebaut und renoviert, um alles unsichtbar zu machen, was vormals war.
Was mochte seine Frau jetzt denken über ihn, die Frühverstorbene, die unversehens Erkrankte? Herr Walter erinnerte sich daran,
dass er seine Hand in die ihrige gefaltet hatte, so lange, bis sie ganz kalt geworden war und die übrigen Angehörigen, zunächst
unschlüssig, was zu tun sei, da er sich einfach nicht von ihr wegbewegte, ihm schließlich zaghaft |193| bedeuteten aufzustehen, damit der Arzt feststellen konnte, was nur allzu offensichtlich war.
Heinrich Walter hasste Autofahren. Das Erinnern, das ihn dabei immer überfiel. Er würde einmal noch verrückt werden vor Gedankenfülle.
An Anja dachte er, seine Tochter. Die hatte es auch nicht leicht. Zuerst der Rauswurf aus dem Meinungsforschungsinstitut,
nun die Trennung von ihrem Freund.
Sie hatte ihn vor zwei Tagen von ihrem Handy aus angerufen. Wie so oft: ein nur kurzes Gespräch. Es knarzte, immer wieder
wurde die Verbindung kurzzeitig unterbrochen. Seit es diese Handys gab, dachte Herr Walter oft, war man wieder in die Urzeit
der Telekommunikation zurückgefallen.
Anja sagte, sie sei ausgezogen und dass sie ein Vorstellungsgespräch gehabt habe bei einer T-Shirt-Firma. Es sei nicht so
gut gelaufen.
Herr Walter hätte gerne etwas Tröstendes gesagt, doch er fragte nur: »Brauchst du Geld?«
Er hörte sie noch schnaufen. Dann hatte sie das Gespräch beendet. Vielleicht, dachte Herr Walter, war auch nur wieder die
Verbindung zusammengebrochen.
Links und rechts die Straßenpfeiler, die an Herrn Walter vorbeizogen. Furchtbar neblig. Gleich dürfte links die Abbiegespur
kommen.
Es wurde augenblicklich sehr hell. Und als er das langanhaltende Hupen hörte, hatte Heinrich Walter noch einen klaren, eigentümlich
ruhigen Gedanken: Was hatte nur dieser mächtige LKW in dieser gottverlassenen Gegend verloren?
Wir brechen an dieser Stelle ab. Ohnehin sind wir, was |194| die Maxime unsere Geschichte anbetrifft, ein wenig abgeschweift. Beinahe vergessen hätten wir nämlich, die vorzügliche Strategie
Herrn Strass’ zu loben! Geradezu vorbildlich hatte er sich gegenüber Herrn Walter durchgesetzt mithilfe eines bemerkenswerten
Tricks. Herr Strass hatte über Bande gespielt, er hatte wohlweislich einen Dritten in seinen Plan miteinkalkuliert, um Herrn
Walter zu schädigen. Er ahnte nämlich sehr richtig, dass er Herrn Walter nur ordentlich reizen musste, damit dieser sich beim
Chef beschwerte, um das ungeliebte Dettersheim-Projekt an sich zu reißen. Nun ließe sich natürlich spekulieren, ob der Chef
gar eingeweiht war in diese, Herrn Walter zweifelsfrei demütigende Unternehmung. Ja, das war er. Man hatte vor, Herrn Walter
mit ein wenig Druck zu einem glücklichen Vorruhestand zu bewegen. Zu Bedenken aber dabei ist, da der Leser sich womöglich
das Schicksal Herrn Walters allzu emphatisch zu Herzen nimmt, dass Herr Strass, zumindest unter den Umständen der neuen Zeit,
keineswegs ein unangenehmer Mensch ist. Nach Feierabend engagiert er sich ehrenamtlich in einem Kinderheim des Viertels, was
auch damit zusammenhängt, dass er selbst, aus ungeklärten Gründen, vor genau dreiunddreißig Jahren der Obhut des Staates übergeben
worden war.
PS: Wenige Tage später fand sich ein Nachruf in einer der angesehensten Tageszeitungen des Landes: »Das Maklerbüro *** gibt
in tiefer Trauer bekannt, dass unser langjähriger Mitarbeiter Heinrich Walter am vergangenen Mittwoch im Alter von zweiundsechzig
Jahren verstorben ist. Wir verlieren |195| in Heinrich Walter einen stets hilfsbereiten und freundlichen Mitarbeiter, der nicht nur wegen seiner fachlichen Kompetenz,
sondern auch aufgrund seines kollegialen Verhaltens von allen Mitarbeitern geschätzt wurde. Wir werden sein Andenken in Ehren
halten.«
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D ass wir uns immerzu inszenieren, inszenieren müssen, um Wünsche, Gedanken, Sehnsüchte auszudrücken, dass wir uns immerzu verstellen!
Zur Schonung anderer, damit sie uns in Zukunft nicht schaden und um uns gegenüber Konkurrenten Vorteile zu verschaffen. Wir
brauchen dafür den Körper, brauchen die Sprache. Fragile Werkzeuge, die anzeigen, dass ein Riss, seitdem wir auf der Welt
sind, in uns ist; dass wir gespalten sind in ein geistiges Innen und ein körperliches Außen;
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