Die Schopenhauer-Kur
Rebeccas Geschenk nachzudenken, doch ehe er sich sammeln konnte, hatte er seinen Auftrag bereits vergessen. Immer wieder befreite er seinen Kopf von allen Gedanken und versuchte, sich auf beruhigende und archetypische Bilder zu konzentrieren – auf das Kielwasser der Schwäne, die Pirouetten der Pazifikwellen unter dem Golden Gate –, aber er fühlte sich weiterhin seltsam zerstreut.
Er spazierte durch Presidio, den früheren Militärstützpunkt auf dem Hügel an der Mündung der Bucht, und zur Clement Street mit ihren zwanzig Blocks dicht gedrängter asiatischer Restaurants hinunter. Er wählte einen bescheidenen vietnamesischen Imbiss, und als seine Rindfleischsuppe kam, saß er ein paar Minuten lang still da, atmete den von der Brühe aufsteigenden Zitronengrasdampf ein und starrte auf den glitzernden Berg Glasnudeln. Nach nur wenigen Löffeln bat er darum, dass der Rest eingepackt würde.
Philip, der seiner Nahrungsaufnahme generell wenig Aufmerksamkeit schenkte, hatte seine Essgewohnheiten zur Routine gemacht: zum Frühstück Toast, Orangenmarmelade und Kaffee, mittags eine Hauptmahlzeit in der Studentencafeteria und abends ein kleines, preiswertes Gericht, bestehend aus Suppe oder Salat. Alle Mahlzeiten wurden freiwillig allein eingenommen. Er tröstete sich mit dem Gedanken an Schopenhauer und seine Angewohnheit, die ihm manchmal sogar ein breites Lächeln entlockte, in seinem Stammlokal für zwei zu bezahlen, nur damit niemand neben ihm saß.
Er machte sich auf den Heimweg zu seinem Zweizimmer-Cottage, ebenso spärlich möbliert wie sein Büro, das auf dem Grundstück eines prächtigen Hauses in Pacific Heights lag, nicht weit entfernt von Julius. Die Witwe, die allein in dem Haus lebte, vermietete ihm das Cottage für eine bescheidene Summe. Sie brauchte das zusätzliche Einkommen und hatte gern ein unauffälliges menschliches Wesen in der Nähe, auch wenn sie ihre Privatsphäre schätzte. Dafür war Philip genau der Richtige; sie wohnten seit etlichen Jahren als Nachbarn, aber doch getrennt voneinander.
Die enthusiastische Begrüßung, die ihm sein Hund Rugby mit Jaulen, Gebell, Schwanzwedeln und akrobatischen Luftsprüngen zuteil werden ließ, munterte Philip im Allgemeinen auf, heute Abend jedoch nicht. Ebenso wenig brachte ihn das Ausführen des Hundes oder irgendeine andere seiner üblichen Freizeitaktivitäten zur Ruhe. Er zündete seine Pfeife an, lauschte Beethovens Vierter Sinfonie, las zerstreut ein wenig Schopenhauer und Epiktet. Nur einmal fesselte eine bestimmte Passage bei Epiktet seine Aufmerksamkeit, wenn auch nur für ein paar Momente.
»Wenn du ein ernsthaftes Interesse an Philosophie verspürst, stelle dich zu allererst auf Spott und Hohn ein. Denke daran: Wenn du hartnäckig bleibst, werden dich die Menschen später dafür bewundern . . . Wann immer
du dich von Äußerlichkeiten ablenken lässt, um jemandem zu Gefallen zu sein – denke daran, dass Du den Zweck deines Lebens verfehlt hast.«
Trotzdem blieb ihm ein Gefühl des Unbehagens – ein Unbehagen, das er seit längerem nicht mehr erlebt hatte, ein Gemütszustand, der ihn in früheren Jahren hinausgetrieben hätte wie ein sexhungriges Tier auf Beutefang. Er ging in seine winzige Küche, räumte das Frühstücksgeschirr vom Tisch, schaltete seinen Computer ein und ergab sich seinem einzigen Laster, seiner einzigen Sucht: Er loggte sich in den Internet-Schachclub ein und spielte die nächsten drei Stunden lang schweigend und anonym fünfminütige Blitzturniere. Meistens gewann er. Wenn er verlor, dann gewöhnlich aus Unachtsamkeit, doch sein Ärger dauerte nur kurz an: Sofort klickte er auf »neues Spiel«, und seine Augen leuchteten in kindlichem Entzücken auf, sobald ein neues Spiel begann.
»Es gibt wenig Dinge, welche so sicher die Leute in gute Laune
versetzen, wie wenn man ihnen ein beträchtliches Unglück,
davon man kürzlich getroffen worden, erzählt oder auch
irgendeine persönliche Schwäche ihnen unverhohlen
offenbart.« Ref 100
26
Beim nächsten Treffen ließ Gill sich so schwer in seinen Sessel fallen, dass sein massiger Körper ihn fast sprengte, er wartete, bis alle da waren, und begann: »Wenn sonst keiner etwas hat, würde ich die Reihe ›Geheimnisse‹ gern fortsetzen.«
»Ich möchte an dieser Stelle zur Vorsicht mahnen«, sagte Julius. »Ich halte es für keine gute Idee, eine Pflichtübung daraus zu machen. Ich glaube zwar, dass Menschen besser in einer Gruppe zusammenarbeiten, wenn sie sich
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