Die Schopenhauer-Kur
vollständig offenbaren, aber es ist wichtig, dass dabei jeder nach seinem eigenen Tempo vorgeht und sich nicht unter Druck setzen lässt.«
»Ich habe Sie verstanden«, antwortete Gill, »doch ich fühle mich nicht unter Druck gesetzt. Ich möchte darüber reden, und außerdem möchte ich Rebecca und Stuart mit ihren Bekenntnissen nicht allein lassen. Ist das okay?«
Nachdem er das Nicken der Gruppenmitglieder zur Kenntnis genommen hatte, fuhr Gill fort: »Mein Geheimnis reicht in die Zeit zurück, als ich dreizehn war. Ich war Jungfrau, kaum in der Pubertät, mit Akne übersät, und Tante Valerie, die jüngste Schwester meines Vaters . . . sie war Ende zwanzig, Anfang dreißig ... wohnte ab und zu bei uns – sie war häufig arbeitslos. Wir verstanden uns prima, tobten jede Menge rum,
wenn meine Eltern weg waren – wir rangen miteinander, kitzelten uns, machten Kartenspiele. Dann, als ich beim Strip-Poker mal schummelte und sie ganz nackt war, wurde die Sache echt sexuell – kein Kitzeln mehr, sondern ernsthaftes Gefummel. Ich war unerfahren und völlig hormongesteuert und wusste gar nicht genau, was sich da abspielte, aber als sie sagte: ›Steck ihn rein‹, sagte ich: ›Klar, Ma’am‹, und folgte ihren Anweisungen. Danach haben wir es getrieben, wann immer wir konnten, bis meine Eltern ein paar Monate später früher als sonst nach Hause kamen und uns auf frischer Tat, mittendrin, ertappten – flagrant – wie heißt das noch mal?«
Gill schaute Philip an, der den Mund aufmachte, um zu antworten, aber Pam, die mit Blitzgeschwindigkeit »In flagranti« sagte, kam ihm zuvor.
»Wow, das war schnell . . . ich hatte ganz vergessen, dass wir hier zwei Professoren haben«, murmelte Gill und fuhr dann mit seinem Bericht fort: »Also, die Geschichte brachte irgendwie die ganze Familie durcheinander. Mein Vater regte sich gar nicht so besonders darüber auf, aber meine Mutter war fuchsteufelswild, Tante Val wohnte dann nicht mehr bei uns, und meine Mutter war wütend auf Dad, weil er nach wie vor gut Freund mit ihr war.«
Gill hielt inne, guckte sich um und fügte hinzu: »Ich verstehe ja, dass meine Mutter sauer war, aber immerhin war es ebenso sehr meine Schuld wie die von Tante Val.«
»Ihre Schuld – mit dreizehn? Na wissen Sie!«, sagte Bonnie. Andere – Stuart, Tony, Rebecca – nickten zustimmend.
Ehe Gill etwas erwidern konnte, sagte Pam: »Ich habe eine Antwort für Sie, Gill. Vielleicht nicht die, die Sie erwarten, aber etwas, mit dem ich bisher hinterm Berg gehalten habe, etwas, das ich Ihnen schon vor meiner Reise sagen wollte. Ich weiß nicht, wie ich es taktvoll formulieren soll, deshalb versuche ich es gar nicht erst – ich rede einfach frei von der Leber weg. Das Entscheidende ist, dass Ihre Geschichte mich nicht im Mindesten berührt, und es ist meistens so, dass Sie mich
nicht berühren. Auch wenn Sie behaupten, Sie würden sich offenbaren wie Rebecca und Stuart, kommen Sie für mich nicht als persönlich rüber.«
»Ich weiß, dass Sie sich für die Gruppe einsetzen«, fuhr Pam fort. »Sie scheinen hart zu arbeiten, Sie übernehmen eine Menge Verantwortung für andere; wenn jemand rausrennt, sind es meistens Sie, der ihm nachläuft und ihn zurückholt. Sie scheinen sich zu offenbaren, aber Sie tun es nicht – es ist eine Illusion –, Sie bleiben im Verborgenen. Ja, genau das sind Sie – einer, der im Verborgenen bleibt. Ihre Geschichte über Ihre Tante ist ganz typisch für das, was ich meine. Sie scheint persönlich, ist es aber nicht. Sie ist ein Trick, denn sie ist nicht Ihre Geschichte, sie ist die Geschichte Ihrer Tante Val, und natürlich geht jeder hoch und sagt: ›Aber Sie waren ja noch ein Kind, Sie waren dreizehn, Sie waren das Opfer.‹ Was sollen sie sonst sagen? Und in Ihren Geschichten über Ihre Ehe ging es immer um Rose, nie um Sie. Und Sie erreichen immer dieselbe Reaktion von uns: › Warum lassen Sie sich diesen Scheiß gefallen? ‹
Als ich in Indien meditierte – gelangweilt bis zum Gehtnichtmehr –, habe ich viel über diese Gruppe nachgedacht. Sie würden nicht glauben, wie viel. Und ich habe an jeden einzelnen hier gedacht. Bis auf Sie, Gill. Ich sage es sehr ungern, aber ich habe einfach nicht an Sie gedacht. Wenn Sie sprechen, weiß ich nie, mit wem Sie sprechen – mit den Wänden vielleicht oder dem Fußboden, aber ich habe nie die Erfahrung gemacht, dass Sie mit mir persönlich sprechen.«
Schweigen. Die anderen wirkten zu
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