Die Schopenhauer-Kur
zu wohnen, von wo aus er zur University of Maryland pendeln konnte, die seinem Elternhaus am nächsten gelegene Uni; dann Vladimir, der sie heiraten wollte, obwohl er keine feste Anstellung hatte und für immer ein fahrender Englisch-Dozent sein würde, und Earl, ihr künftiger Ex, der durch und durch unecht war, von seinem für ihn speziell angefertigten Haarfärbemittel bis hin zu seiner Beherrschung der Klassiker, die er Kurzfassungen verdankte, und seinem Stall von Patientinnen, darunter sie selbst, die leichte Beute für ihn war, und John, der zu feige war, sich aus einer toten Ehe zu lösen und mit ihr zusammenzuleben. Und der letzte Zuwachs, Vijay? Den durften Bonnie und Rebecca gern haben! Sie konnte nicht viel Begeisterung für einen Mann aufbringen, der ein ganztägiges Retreat in Sachen Gleichmut bräuchte, um sich vom Stress einer Frühstücksbestellung zu erholen.
Doch all diese Gedanken waren nebensächlich. Die Person, der ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt, war Philip, dieser wichtigtuerische Schopenhauer-Klon, dieser Trottel, der dasaß, Absurditäten von sich gab und so tat, als sei er ein Mensch.
Nach dem Abendessen wandte Pam sich ihren Bücherregalen zu und inspizierte ihre Schopenhauer-Abteilung. Eine Zeit lang hatte sie im Hauptfach Philosophie studiert und eine Dissertation über Schopenhauers Einfluss auf Beckett und Gide geplant. Sie hatte die Prosa Schopenhauers geliebt – er war der beste Stilist unter den Philosophen, wenn man einmal von Nietzsche absah. Sie hatte seinen Verstand bewundert, sein Wissensspektrum und seinen Mut, jeden Glauben an das Übernatürliche in Frage zu stellen, aber je mehr sie über Schopenhauer als Menschen erfahren hatte, desto mehr hatte er sie abgestoßen.
Sie nahm einen alten Band mit seinen gesammelten Aufsätzen
vom Regal, schlug ihn auf und begann, sich einige der von ihr hervorgehobenen Passagen laut vorzulesen.
»Wer nicht achtet, wird geachtet.« »Durch etwas Höflichkeit und Freundlichkeit kann man Menschen biegsam und gefällig machen. Sonach ist die Höflichkeit dem Menschen, was die Wärme dem Wachs.«
Jetzt fiel ihr wieder ein, warum sie Schopenhauer gehasst hatte. Und Philip als Berater? Mit Schopenhauer als Vorbild? Und Julius unterrichtete ihn? Es war alles nicht zu fassen.
Sie las den letzten Aphorismus noch einmal: »Sonach ist die Höflichkeit dem Menschen, was die Wärme dem Wachs.« Hmm, er glaubt also, er kann mich gefügig machen wie Wachs, mit einem ungebetenen Kompliment zu meinen Anmerkungen über Buber oder damit, dass er mir an der Tür den Vortritt lässt, ungeschehen machen, was er mir angetan hat. Der kann mich kreuzweise!
Später versuchte sie, Frieden zu finden, indem sie ein Bad in ihrem Whirlpool nahm und dabei eine Kassette mit Goenkas Gesang hörte, der sie mit seiner hypnotischen, schwungvollen Melodie, seinen plötzlichen Pausen und Einsätzen und Tempi- und Klangwechseln oft beruhigte. Ein paar Minuten lang probierte sie es sogar mit Vipassana-Meditation, aber sie erreichte die Gelassenheit nicht, die sie einst verheißen hatte. Sie stieg aus der Wanne und musterte sich im Spiegel. Sie zog den Bauch ein, hob ihre Brüste an, begutachtete ihr Profil, tätschelte ihr Schamhaar und schlug in einer aufreizenden Pose die Beine übereinander. Verdammt gut für eine Frau von vierzig.
Bilder von ihrem ersten Zusammentreffen mit Philip vor fünfzehn Jahren schwirrten ihr durch den Kopf. Wie er da an seinem Pult saß, den eintretenden Studenten lässig den Lehrplan überreichte und ihr ein breites Lächeln schenkte. Er war ein eleganter Mann gewesen damals, attraktiv, intelligent, aus
einer anderen Welt, unempfindlich gegen Ablenkungen. Was zum Teufel war aus diesem Mann geworden? Und der Sex, diese Kraft, mit der er tat, was er wollte, ihr die Unterwäsche vom Leib riss, sie mit seinem Körper erdrückte. Mach dir nichts vor, Pam – es hat dir nur allzu gut gefallen. Ein Gelehrter mit fabelhaften Kenntnissen über die Geistesgeschichte des Abendlandes, außerdem ein großartiger Lehrer, der beste vielleicht, den sie je hatte. Deshalb wollte sie anfangs auch in Philosophie promovieren. Aber das waren Dinge, die er nie erfahren durfte.
Nachdem sie mit all diesen aufwühlenden und beunruhigenden Überlegungen abgeschlossen hatte, wandten sich ihre Gedanken einem traurigeren Thema zu: Julius’ Sterben. Das war doch mal ein Mann zum Lieben. Sah dem Tod entgegen, arbeitete aber ganz normal weiter. Wie machte er das? Wie
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