Die Schopenhauer-Kur
stärker zusetzen würde, unsere verborgensten Wesenszüge
(Grausamkeit, Angst, Neid, Wollust, Aggressivität, Selbstsucht) zu kennen, als wir ertragen könnten.
Das klingt vertraut? Klingt nach dem alten Freudschen Kram – Unbewusstes, Primärvorgang, Es, Repression, Selbsttäuschung? Sind das nicht die entscheidenden Ansätze, die ersten Anfänge der Psychoanalyse? Man darf nicht vergessen, dass Schopenhauers Hauptwerk vierzig Jahre vor Freuds Geburt publiziert wurde. Als Freud (und Nietzsche desgleichen) Mitte des 19. Jahrhunderts Schuljungen waren, war Arthur Schopenhauer Deutschlands meistgelesener Philosoph.
Wie verstehen wir diese unbewussten Kräfte? Wie vermitteln wir sie anderen? Obgleich sie nicht in Begriffe gefasst werden können, kann man sie erleben und nach Schopenhauers Meinung direkt, ohne Worte, auf dem Wege der Kunst kommunizieren. Deshalb sollte er der Kunst, vor allem der Musik, mehr Aufmerksamkeit widmen als jeder andere Philosoph.
Und der Geschlechtstrieb? Er ließ keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass sexuelle Empfindungen für das menschliche Verhalten eine wesentliche Rolle spielen. Auch hier war er wieder ein unerschrockener Pionier: Kein Philosoph vor ihm hatte die Einsicht (oder den Mut), über den wichtigen Einfluss des Geschlechtstriebs auf unser Innenleben zu schreiben.
Und die Religion? Schopenhauer war der erste bedeutende Philosoph, dessen Denken eine atheistische Basis hatte. Er leugnete das Übernatürliche explizit und vehement und behauptete stattdessen, wir lebten ausschließlich in Raum und Zeit, und alle nichtmateriellen Gebilde seien falsche und unnötige Konstrukte. Obwohl viele andere, Hobbes, Hume, sogar Kant, agnostische Neigungen gehabt haben mögen, wagte keiner von ihnen, sich offen dazu zu bekennen. Sie waren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, abhängig von den Staaten und Universitäten, die sie angestellt hatten, und durften daher keine antireligiösen Gedanken äußern. Arthur war weder irgendwo angestellt, noch hatte er den Wunsch danach, sodass
es ihm freistand, nach eigenem Gutdünken zu schreiben. Aus demselben Grund hatte Spinoza anderthalb Jahrhunderte früher gehobene akademische Positionen abgelehnt und stattdessen optische Gläser geschliffen.
Und die Schlussfolgerungen, die Arthur aus dem inneren Wissen des Körpers zog? Dass es in uns und in der gesamten Natur eine anhaltende, unersättliche, ursprüngliche Lebenskraft gibt, die er als Wille bezeichnete. Wo wir auch hinschauen, schrieb er, ist die wilde Triebhaftigkeit. Was ist Leiden? Das Zusammenspiel zwischen Wille und nie zu erreichendem Ziel.
Wir wollen, wir wollen, wir wollen, wir wollen. Für jedes Bedürfnis, das in unser Bewusstsein gelangt, stehen zehn Bedürfnisse im Unbewussten auf Abruf bereit. Der Wille treibt uns unbarmherzig an, denn sobald ein Bedürfnis befriedigt ist, tritt sogleich ein anderes an seine Stelle, und so geht das unser Leben lang.
Gelegentlich zitiert Schopenhauer den Mythos vom Rad des Ixion oder den des Tantalus, um das Dilemma der menschlichen Existenz zu beschreiben. Ixion war ein König, der Zeus gegenüber illoyal war und deshalb zur Strafe an ein glühendes, unaufhörlich rollendes Rad gefesselt wurde. Tantalus, der es wagte, Zeus zu trotzen, büßte seine Hybris damit, dass er ständig verlockt, aber nie befriedigt wurde. Das menschliche Leben, meinte Schopenhauer, kreist in alle Ewigkeit um eine Achse der Bedürfnisse, auf die Sättigung folgt. Sind wir befriedigt durch diese Sättigung? Leider nur kurze Zeit. Fast unverzüglich setzt Langeweile ein, und erneut werden wir zum Handeln getrieben, diesmal, um den Schrecken der Langeweile zu entfliehen.
»Arbeit, Plage, Mühe und Not ist allerdings ihr ganzes Leben hindurch das Los fast aller Menschen. Aber wenn alle Wünsche, kaum entstanden, auch schon erfüllt wären; womit sollte dann das menschliche Leben ausgefüllt, womit die Zeit zugebracht werden? Man versetze dies Geschlecht in ein Schlaraffenland, wo alles von selbst wüchse und die Tauben gebraten herumflögen, auch jeder seine Heißgeliebte bald fände und ohne Schwierigkeiten erhielte. – Da werden die Menschen zum Teil vor Langeweile sterben oder sich aufhängen, zum Teil aber einander bekriegen, würgen und morden und so sich mehr Leid verursachen, als jetzt die Natur ihnen auflegt.« Ref 103
Und was ist das Furchtbarste an der Langeweile? Warum müssen wir uns so schnell wie möglich von ihr befreien? Weil sie ein Zustand
Weitere Kostenlose Bücher