Die Schopenhauer-Kur
als ob es um sein Leben ginge. Als er ausgelesen hatte, war Thomas Buddenbrook ein verwandelter Mann, ein Mann, der den Trost und Frieden gefunden hatte, welcher sich ihm verweigert hatte.
Was war es gewesen, das der Sterbende entdeckt hatte?
(An dieser Stelle legte sich Philip plötzlich eine orakelhafte Stimme zu.) Hören Sie gut zu, Julius Hertzfeld, denn dies ist vielleicht nützlich für die letzte Prüfung des Lebens . . .«
Schockiert darüber, in aller Öffentlichkeit direkt angesprochen zu werden, schoss Julius von seinem Sitz hoch. Nervös schaute er sich um und sah zu seiner Verwunderung, dass das Auditorium leer war: Alle, sogar die beiden Obdachlosen, waren gegangen.
Philip jedoch, ungerührt von seinem nicht mehr anwesenden Publikum, fuhr ruhig fort:
»Ich lese Ihnen jetzt einen Abschnitt aus den Buddenbrooks vor. (Er schlug sein ramponiertes Taschenbuchexemplar auf.) Ihre Aufgabe ist es, den Roman, insbesondere Teil neun, sehr genau zu lesen. Er wird sich für Sie als unschätzbar wertvoll erweisen – viel wertvoller als der Versuch, Erinnerungen von Patienten an eine längst vergangene Zeit Bedeutung abzugewinnen.
›In meinem Sohne habe ich fortzuleben gehofft? In einer noch ängstlicheren, schwächeren, schwankenderen Persönlichkeit? Kindische, irregeführte Torheit. Was soll mir ein Sohn? Ich brauche keinen Sohn! . . . Wo ich sein werde, wenn ich tot bin? Aber es ist so leuchtend klar, so überwältigend einfach! In allen denen werde ich sein, die je und je Ich gesagt haben, sagen und sagen werden: besonders aber in denen, die es voller, kräftiger, fröhlicher sagen . Habe ich je das Leben gehasst, dies reine, grausame und starke Leben? Torheit und Mißverständnis! Nur mich habe ich gehaßt, dafür, daß ich es nicht ertragen konnte. Aber ich liebe euch... ich liebe euch alle, ihr Glücklichen, und bald werde ich aufhören, durch eine enge Haft von euch ausgeschlossen zu sein; bald wird das
in mir, was euch liebt, wird meine Liebe zu euch frei werden und bei und in euch sein . . . bei und in euch allen!‹« Ref 10
Philip klappte das Buch zu und kehrte zu seinen Notizen zurück.
»Wer war also nun der Verfasser des Buches, das Thomas Buddenbrook derart verwandelte? In dem Roman enthüllt Mann seinen Namen nicht, doch vierzig Jahre später schrieb er einen herrlichen Aufsatz, aus dem hervorgeht, dass Arthur Schopenhauer der Autor des Bandes war. Mann schildert weiterhin, wie er im Alter von dreiundzwanzig zum ersten Mal die große Freude erlebte, Schopenhauer zu lesen. Er war nicht nur entzückt vom Klang seiner Worte, sondern auch vom Wesen des Schopenhauerschen Denkens. Auf der Stelle befand Mann, dass die Entdeckung von Schopenhauer zu kostbar war, um sie für sich zu behalten, und setzte sie sofort kreativ ein, indem er den Philosophen seinem leidenden Helden darbot.
Und nicht nur Thomas Mann, sondern viele andere kluge Köpfe räumten ein, was sie Arthur Schopenhauer schuldeten. Tolstoi nannte ihn »das Genie schlechthin unter den Menschen«. Für Richard Wagner war er ein »Geschenk des Himmels«. Nietzsche meinte, sein Leben sei nicht mehr dasselbe gewesen, nachdem er in einem Leipziger Antiquariat einen zerfledderten Schopenhauer-Band erworben hatte – ›ich ahnte, in ihm jenen Erzieher und Philosophen gefunden zu haben, den ich so lange suchte‹. Schopenhauer veränderte die intellektuelle Landschaft der abendländischen Welt für immer, ohne ihn hätten wir einen ganz anderen und schwächeren Freud, Nietzsche, Hardy, Wittgenstein, Beckett, Ibsen, Conrad.«
Philip holte eine Taschenuhr hervor, musterte sie eine Weile und sagte dann sehr feierlich:
»Hier endet meine Schopenhauer-Einführung. Seine Philosophie geht so sehr in die Breite und in die Tiefe, dass sie sich einer kurzen Zusammenfassung widersetzt. Daher habe ich beschlossen, Ihre Neugierde zu wecken in der Hoffnung, dass Sie das sechzigseitige Kapitel des Textes aufmerksam lesen. Die letzten zwanzig Minuten dieser Vorlesung möchte ich lieber Fragen und Erörterungen von Seiten des Publikums widmen. Gibt es Fragen aus dem Publikum, Dr. Hertzfeld?«
Entnervt von Philips Ton schaute sich Julius noch einmal in dem leeren Auditorium um und sagte dann leise: »Philip, ist Ihnen eigentlich klar, dass Ihre Zuhörer verschwunden sind?«
»Welche Zuhörer? Die? Diese so genannten Studenten?« Philip schnippte geringschätzig mit dem Handgelenk, um anzudeuten, dass es unter seiner Würde war, sie zur Kenntnis zu
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