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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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alle jungen Mütter gern mit ihrer »neuen Puppe« gespielt. Aber aus neuen Puppen werden rasch alte Puppen, und innerhalb weniger Monate hatte Johanna ihr Spielzeug satt und verging in Danzig vor Langeweile und Einsamkeit. Etwas Neues bildete sich in ihr heraus – ein vages Gefühl, dass die Mutterschaft nicht ihre eigentliche Bestimmung war, dass eine andere Zukunft auf sie wartete. Ihre Sommer auf dem Landgut der Schopenhauers waren besonders schwierig. Heinrich gesellte sich zwar in Begleitung eines Geistlichen an den Wochenenden zu ihr, aber den Rest der Zeit verbrachte Johanna allein mit Arthur und ihren Dienstboten. Auf Grund seiner rasenden Eifersucht verbot Heinrich seiner Frau, Nachbarn einzuladen oder das Anwesen zu verlassen.
    Als Arthur fünf war, sah sich die Familie schweren Belastungen ausgesetzt. Preußen annektierte Danzig, und kurz bevor die anrückenden preußischen Truppen unter dem Kommando
eben jenes Generals eintrafen, den Heinrich vor Jahren beleidigt hatte, floh die gesamte Familie Schopenhauer nach Hamburg. Dort, in einer fremden Stadt, brachte Johanna ihr zweites Kind Adele zur Welt und fühlte sich noch gefangener und hoffnungsloser als zuvor.
    Heinrich, Johanna, Arthur, Adele – Vater, Mutter, Sohn, Tochter –, sie waren zu viert und doch ohne Verbindung zueinander.
    Für Heinrich war Arthur eine Schmetterlingspuppe, die sich zum zukünftigen Leiter des Handelshauses Schopenhauer entfalten sollte. Heinrich war der traditionelle Vater; er kümmerte sich um das Geschäft und ließ seinen Sohn links liegen, da er beabsichtigte, erst in Aktion zu treten und väterliche Pflichten zu übernehmen, wenn Arthur seine Kindheit hinter sich hatte.
    Und die Ehefrau, was hatte Heinrich für sie vorgesehen? Sie war Brutstätte und Wiege der Familie Schopenhauer. Gefährlich vital, wie sie war, musste sie gebändigt, beschützt und in Schranken gehalten werden.
    Und Johanna? Wie fühlte sie sich? Eingesperrt! Ihr Gatte und Versorger Heinrich war ein tödlicher Irrtum gewesen, ihr freudloser Gefängniswärter, der grimmige Räuber ihrer Lebenslust. Und ihr Sohn Arthur? War er nicht Teil jener Falle, das Siegel zu ihrem Grab? Als talentierte Frau hatte Johanna ein Verlangen nach Ausdruck und Selbstverwirklichung, das ungestüm wuchs, und Arthur sollte sich als erbärmlich unzureichende Entschädigung für ihre Selbstverleugnung erweisen.
    Und ihre kleine Tochter? Kaum bemerkt von Heinrich, wurde Adele in dem Familiendrama mit einer Nebenrolle betraut, die sie dazu bestimmte, ihr Leben als Johanna Schopenhauers Gesellschafterin zu verbringen.
    Und so gingen die Schopenhauers ihre getrennten Wege.
    Vater Schopenhauer stürzte sich, von Angst und Verzweiflung getrieben, sechzehn Jahre nach Arthurs Geburt in den Tod, indem er das oberste Fenster seines Lagerhauses erklomm
und in das kalte Wasser eines Hamburger Kanals sprang.
    Mutter Schopenhauer, durch Heinrichs Sprung aus der Falle ihrer Ehe befreit, schleuderte sich den Schmutz Hamburgs von den Schuhen und flüchtete in Windeseile nach Weimar, wo sie schon bald einen der aufregendsten literarischen Salons Deutschlands ins Leben rief. Dort wurde sie auch die teure Freundin Goethes und anderer Gelehrter und verfasste ein Dutzend Romane, die Verkaufsschlager wurden, viele über Frauen, die in ungewollte Ehen gedrängt wurden, sich jedoch weigerten, Kinder zu gebären, und sich weiterhin nach Liebe sehnten.
    Und der junge Arthur? Arthur Schopenhauer sollte zu einem der klügsten Männer heranwachsen, die jemals lebten. Und zu einem, der am Leben verzweifelte und es inbrünstig hasste, einem Mann, der mit fünfundfünfzig schreiben sollte:
    »Denn wer es weiß, dem könnten zuzeiten die Kinder vorkommen wie unschuldige Delinquenten, die zwar nicht zum Tode, hingegen zum Leben verurteilt sind, jedoch den Inhalt ihres Urteils noch nicht vernommen haben. – Nichtsdestoweniger wünscht jeder sich ein hohes Alter, also einen Zustand, darin es heißt: ›Es ist heute schlecht und wird nun täglich schlechter werden – bis das Schlimmste kommt.‹« Ref 12

»Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um
jede von welchen etwa an ein Dutzend kleinerer beleuchteter
sich wälzt, die, inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde
überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende
und erkennende Wesen erzeugt hat – dies ist die
empirische Wahrheit, das Reale, die Welt.« Ref 13
9
    Julius’ geräumiges Heim in Pacific Heights war wesentlich grandioser

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