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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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nehmen, dass weder ihre Gegenwart noch ihre Anwesenheit ihn im Mindesten interessierte. »Sie, Dr. Hertzfeld, sind heute mein Publikum. Meine Vorlesung war allein für Sie gedacht«, sagte Philip, den es in keiner Weise zu stören schien, ein Gespräch mit jemandem zu führen, der in einem höhlenartigen, verlassenen Auditorium zehn Meter von ihm entfernt saß.
    »In Ordnung, ich beiße an. Warum bin ich heute Ihr Publikum?«
    »Denken Sie darüber nach, Dr. Hertzfeld . . .«
    »Es wäre mir lieber, wenn Sie mich Julius nennen würden. Ich rede Sie mit Philip an, und ich gehe davon aus, dass Sie nichts dagegen haben, also ist es nur recht und billig, wenn Sie mich Julius nennen. Schon wieder ein Déjà vu – wie deutlich erinnere ich mich, dass ich dasselbe bereits vor langer Zeit sagte: ›Nennen Sie mich Julius, bitte – wir sind doch keine Fremden. ‹«
    »Ich spreche meine Klienten nicht mit Vornamen an, weil ich ihr professioneller Berater bin, nicht ihr Freund. Aber wie Sie wünschen, dann eben Julius. Ich fange noch mal an. Sie fragen,
wieso ich Sie allein als mein Publikum betrachte. Meine Antwort ist die, dass ich damit nur auf Ihre Bitte um Hilfe reagiere. Denken Sie darüber nach, Julius: Sie kamen zu mir mit der Bitte um ein Gespräch, und hinter dieser Bitte verbargen sich weitere Bitten.«
    »Aha?«
    »Ja. Lassen Sie mich näher darauf eingehen. Zunächst einmal hatte Ihr Tonfall etwas Dringliches. Es war Ihnen besonders wichtig, dass wir uns treffen. Offensichtlich rührte Ihre Anfrage nicht von der bloßen Neugier her zu wissen, wie es mir geht. Nein, Sie wollten etwas anderes. Sie erwähnten, dass Ihre Gesundheit angeschlagen ist, und bei einem Fünfundsechzigjährigen kann das nur bedeuten, dass Sie bald sterben werden. Daher musste ich annehmen, dass Sie Angst hatten und eine Art Trost suchten. Meine heutige Vorlesung ist meine Antwort auf Ihre Bitte.«
    »Eine indirekte Antwort, Philip.«
    »Nicht indirekter als Ihre Bitte, Julius.«
    »Touché! Aber wenn ich mich recht entsinne, hat Indirektheit Sie nie gestört.«
    »Und ich fühle mich auch jetzt wohl damit. Sie haben um Hilfe gebeten, und ich habe darauf reagiert, indem ich Ihnen den Mann vorstelle, der Ihnen von allen Menschen am besten helfen kann.«
    »Ihre Absicht war es also, mir Trost zu spenden, indem Sie schilderten, wie Manns im Sterben liegender Buddenbrook von Schopenhauer getröstet wurde?«
    »Genau. Und ich habe Ihnen das nur als Appetithappen angeboten, als Kostprobe von dem, was folgen wird. Als Ihr Führer durch das Werk Schopenhauers habe ich Ihnen eine Menge zu bieten, deshalb würde ich Ihnen gern einen Vorschlag machen.«
    »Einen Vorschlag? Philip, Sie überraschen mich immer mehr. Meine Neugier ist geweckt.«
    »Ich habe meine Ausbildung als Berater abgeschlossen und
alle Bedingungen erfüllt, um eine staatliche Lizenz zu beantragen, außer einer: Ich benötige noch zweihundert Stunden professioneller Supervision. Ich kann bereits als klinischer Philosoph praktizieren – das Gebiet wird nicht vom Staat reguliert  –, aber eine Lizenz als Therapeut würde mir einige Vorteile bieten, darunter die Möglichkeit, mich gegen Kunstfehler meinerseits zu versichern und mich effizienter zu vermarkten. Im Gegensatz zu Schopenhauer bin ich weder finanziell unabhängig noch in einer gesicherten akademischen Position – Sie haben ja mit eigenen Augen gesehen, wie wenig Interesse an Philosophie die Trottel aufbringen, die diesen Saustall von einer Universität besuchen.«
    »Philip, wieso müssen wir uns anschreien? Die Vorlesung ist vorbei. Wollen Sie nicht Platz nehmen und diese Debatte weniger förmlich fortsetzen?«
    »Natürlich.« Philip sammelte seine Notizen ein, stopfte sie in seine Aktentasche und ließ sich auf einem Platz in der ersten Reihe nieder. Obwohl sie sich jetzt näher waren, trennten sie nach wie vor drei Sitzreihen, und Philip war gezwungen, seinen Hals zu verrenken, um Julius sehen zu können.
    »Gehe ich also recht in der Annahme, dass Sie einen Handel vorschlagen – ich übernehme Ihre Supervision, und Sie bringen mir Schopenhauer nahe?«, fragte Julius jetzt leise.
    »So ist es!« Philip wandte den Kopf, doch nicht genug, um Blickkontakt herzustellen.
    »Und Sie haben sich die Bedingungen unseres Arrangements genau überlegt?«
    »Ich habe sie mir reiflich überlegt. Eigentlich, Dr. Hertzfeld . . .«
    »Julius.«
    »Ja, ja – Julius. Ich wollte nur sagen, dass ich seit mehreren Wochen erwogen

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