Die Schopenhauer-Kur
als alles, was er sich dieser Tage eigentlich hätte leisten können: Er war einer der Millionäre in San Francisco, die das Glück gehabt hatten, vor dreißig Jahren ein Haus erwerben zu können. Es war die Zwanzigtausend-Dollar-Erbschaft seiner Frau Miriam, die den Kauf ermöglicht hatte, und im Unterschied zu anderen Investitionen, die Julius und Miriam getätigt hatten, war der Wert des Hauses stetig und steil gestiegen. Nach Miriams Tod erwog Julius, das Haus zu verkaufen – es war viel zu groß für eine Person –, war aber dann stattdessen mit seiner Praxis ins Erdgeschoss eingezogen.
Vier Stufen führten von der Straße zu einem Absatz mit einem blau gekachelten Brunnen. Links ging es in Julius’ Praxis, rechts führte eine längere Treppe in seine Wohnung. Philip war auf die Minute pünktlich. Julius begrüßte ihn an der Tür, geleitete ihn ins Büro und deutete auf einen kastanienbraunen Ledersessel.
»Kaffee oder Tee?«
Philip schaute sich nicht um, während er Platz nahm, ignorierte
Julius’ Angebot und sagte: »Ich erwarte Ihre Entscheidung wegen der Supervision.«
»Aha, wieder mal direkt zur Sache. Ich tue mich schwer mit der Entscheidung. Es gibt eine Menge Fragen. An Ihrer Bitte ist etwas – ein tiefer Widerspruch –, der mich sehr verwirrt.«
»Sie wollen zweifellos wissen, warum ich Ihnen eine Supervision antrage, nachdem ich mit Ihnen als Therapeut so unzufrieden war.«
»Genau. Sie haben in überaus deutlichen Worten geäußert, unsere Therapie sei ein kompletter Fehlschlag gewesen, eine Vergeudung von drei Jahren und einem Großteil Ihres Geldes.«
»Eigentlich ist es kein Widerspruch«, erwiderte Philip unverzüglich. »Jemand kann ein kompetenter Therapeut und Supervisor sein, auch wenn er bei einem bestimmten Patienten versagt. Die Forschung zeigt, dass die Psychotherapie, in wessen Hand auch immer, bei rund einem Drittel der Patienten erfolglos bleibt. Außerdem besteht kein Zweifel, dass ich eine wichtige Rolle bei ihrem Scheitern spielte – meine Sturheit, meine Rigidität. Ihr einziger Fehler war der, die falsche Therapie für mich ausgewählt und dann zu lange darauf beharrt zu haben. Trotzdem habe ich Ihre Bemühtheit und Ihr Interesse daran, mir zu helfen, durchaus zur Kenntnis genommen.«
»Klingt gut, Philip. Klingt logisch. Aber dennoch, einen Therapeuten um Supervision bitten, der Ihnen in der Therapie nichts gegeben hat? Das würde ich nie im Leben tun – ich würde mir jemand anderen suchen. Ich habe das Gefühl, da ist noch etwas, etwas, mit dem Sie nicht herausrücken.«
»Vielleicht wäre es an der Zeit für eine kleine Relativierung. Es stimmt nicht ganz, dass ich gar nichts von Ihnen bekommen habe. Sie haben zwei Äußerungen gemacht, die sich in mir festgesetzt haben und die womöglich eine wesentliche Rolle bei meiner Heilung spielten.«
Einen Moment lang stank es Julius, sich nach den Details erkundigen zu müssen. Glaubte Philip, sie interessierten ihn
nicht? War er wirklich so abgehoben? Schließlich gab er nach und fragte: »Und welche zwei Äußerungen?«
»Na ja, die erste hört sich nach nichts Besonderem an, aber sie tat ihre Wirkung. Ich hatte Ihnen von einem meiner typischen Abende erzählt – Sie wissen schon, irgendwo eine Frau aufgabeln, sie zum Essen einladen, die Verführungsszene in meinem Schlafzimmer immer nach demselben Schema und mit derselben stimmungsvollen Musik in Gang setzen. Ich erinnere mich, dass ich Sie um Ihre Meinung dazu bat und wissen wollte, ob Sie das Ganze geschmacklos oder unmoralisch fänden.«
»Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe.«
»Sie sagten, Sie fänden es weder geschmacklos noch unmoralisch, sondern nur langweilig. Der Gedanke, ein langweiliges, monotones Leben zu führen, versetzte mir einen Schock.«
»Aha, interessant. Das war also die eine Äußerung. Und die andere?«
»Wir sprachen über Grabinschriften. Ich weiß nicht mehr, warum, aber ich glaube, Sie stellten die Frage, welche Inschrift ich für mich selbst wählen würde . . .«
»Gut möglich. Die Frage greife ich gerne auf, wenn ich das Gefühl habe, in einer Sackgasse gelandet zu sein und eine aufrüttelnde Intervention zu benötigen. Und . . .?«
»Nun, Sie schlugen vor, ich sollte den Satz: ›Er fickte gern‹ auf meinen Grabstein gravieren lassen. Und dann fügten Sie hinzu, diese Inschrift könnte ich ohne weiteres auch für meinen Hund nehmen – ich könnte den gleichen Stein für mich und meinen Hund
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