Die Schopenhauer-Kur
mal siebzig Dollar – das sind vierhundertneunzig Dollar. Für anderthalb Stunden. Interessantes kommerzielles Projekt. Und was ist der Sinn einer Gruppentherapie – so wie Sie vorgehen?«
»Der Sinn? Wovon haben wir denn geredet? Schauen Sie, Philip, ich bin jetzt mal ganz offen: Wie können Sie Therapeut sein, wenn Sie einen Scheiß darüber wissen, was sich zwischen Ihnen und anderen Menschen abspielt?«
»Nein, nein. Das habe ich ja verstanden. Meine Frage war unpräzise. Ich habe keine Ausbildung in Gruppentherapie und bitte um Klärung, wie sie funktioniert. Wie soll ich davon profitieren, dass andere in aller Breite ihr Leben und ihre Probleme
schildern? Schon die Vorstellung eines solchen Elendschors entsetzt mich, obwohl es, wie Schopenhauer meint, immer Freude macht, wenn man erfährt, dass andere mehr leiden als man selbst.«
»Ach so, Sie wollen eine Orientierung. Das ist eine gerechtfertigte Bitte. Ich habe es mir zum Grundsatz gemacht, jedem Patienten, der neu in eine Gruppe kommt, eine Orientierung zu geben. Das sollte jeder Therapeut tun. Also, mein Ansatz ist zunächst einmal streng interpersonell, und ich gehe davon aus, dass jeder Teilnehmer Schwierigkeiten hat, dauerhafte Beziehungen zu etablieren . . .«
»Aber das stimmt nicht. Weder wünsche noch brauche ich . . .«
»Ich weiß, ich weiß. Aber sehen Sie diesmal darüber hinweg. Ich habe ja bloß gesagt, ich gehe davon aus, dass diese zwischenmenschlichen Probleme vorhanden sind – ich nehme das einfach an, ob Sie nun zustimmen oder nicht. Mein Ziel in der Therapiegruppe kann ich ganz klar formulieren: jedem Mitglied zu einem besseren Verständnis dafür zu verhelfen, wie er oder sie sich jedem einzelnen in der Gruppe, dem Therapeuten eingeschlossen, gegenüber verhält. Ich behalte also das Hier und Jetzt im Auge – das ist ein wesentliches Konzept, das man als Therapeut meistern muss, Philip. Anders gesagt, die Gruppe arbeitet a-historisch: Wir konzentrieren uns auf das Jetzt – es ist nicht nötig, die Vergangenheit der Teilnehmer im Detail zu erforschen –, wir konzentrieren uns auf den gegenwärtigen Moment in der Gruppe und auf das Hier – vergessen Sie, was Mitglieder über Misserfolge in ihren Beziehungen erzählen, ich gehe davon aus, dass sie in der Gruppe dasselbe Verhalten zeigen, das in ihrem sozialen Umfeld zu Schwierigkeiten geführt hat. Und ich gehe weiterhin davon aus, dass sie irgendwann das, was sie über ihre Beziehungen in der Gruppe lernen, auf ihre sonstigen Beziehungen übertragen. Ist das klar? Ich kann Ihnen Material zum Lesen mitgeben, wenn Sie möchten.«
»Es ist klar. Was für grundsätzliche Regeln hat die Gruppe?«
»Erstens Vertraulichkeit – Sie sprechen mit niemandem über andere Gruppenmitglieder. Zweitens – Sie streben danach, sich zu offenbaren und Ihre Wahrnehmungen von anderen Mitgliedern und Ihre Gefühle für sie ehrlich auszudrücken. Drittens – alles muss sich innerhalb der Gruppe abspielen. Wenn einzelne Teilnehmer außerhalb der Treffen Kontakt miteinander haben, muss das in die Gruppe einfließen und dort erörtert werden.«
»Und das ist die Bedingung dafür, dass Sie mich supervisieren?«
»Absolut. Sie wollen, dass ich Sie ausbilde? Na gut, das ist die Voraussetzung.«
Philip saß schweigend mit geschlossenen Augen da, das Kinn auf seine gefalteten Hände gestützt. Dann machte er die Augen auf und sagte: »Ich gehe nur auf Ihren Vorschlag ein, wenn Sie bereit sind, die Gruppentherapiesitzungen als Supervisionsstunden anzurechnen.«
»Das ist viel verlangt, Philip. Können Sie sich das ethische Dilemma vorstellen, das sich daraus für mich ergibt?«
»Können Sie sich das Dilemma vorstellen, das Ihr Vorschlag für mich bedeutet? Ich muss meine Aufmerksamkeit auf meine Beziehung zu anderen richten, obwohl ich gar nicht will, dass mir irgendjemand irgendetwas bedeutet. Haben Sie außerdem nicht gesagt, dass eine bessere soziale Kompetenz mich als Therapeut effektiver machen wird?«
Julius stand auf, trug seine Kaffeetasse zur Spüle, schüttelte den Kopf, weil er sich fragte, worauf er sich da eingelassen hatte, kehrte zu seinem Platz zurück, atmete langsam aus und sagte: »Na gut, ich bin bereit, die Gruppentherapiestunden als Supervision anzurechnen.«
»Eins noch: Wir haben die Logistik des Gebens und Nehmens nicht besprochen – dass ich Ihnen dafür Schopenhauer-Unterricht anbiete.«
»Was immer wir in dieser Hinsicht beschließen, wird
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