Die Schopenhauer-Kur
merkwürdigen Traumbild geweckt: einem Stern mit kleinen Beinen, Zylinder und Stock, der im Stepptanz über die Bühne ihres Geistes wirbelte. Ein tanzender Stern! Sie wusste genau, was das Traumbild bedeutete. Von allen literarischen Aphorismen, die sie und John schätzten, war ihr einer der liebsten Nietzsches Satz aus dem Zarathustra: »Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.«
Natürlich. Jetzt war ihr der Grund für ihre Ambivalenz hinsichtlich Vipassana klar. Goenka hatte Wort gehalten. Er vermittelte genau das, was er versprochen hatte: Gelassenheit, Ruhe oder, wie er es gern ausdrückte, Gleichgewicht. Aber um welchen Preis? Wenn Shakespeare sich mit Vipassana beschäftigt hätte, wären dann König Lear oder Hamlet entstanden? Wäre auch nur eines der Meisterwerke abendländischer Kultur verfasst worden? Einer von George Chapmans Versen kam ihr in den Sinn:
Keine Feder ist auf Dauer zu gebrauchen, will man sie nicht in die Stimmung der Nacht tauchen.
In die Stimmung der Nacht tauchen – das war die Aufgabe des großen Dichters – sich in die Stimmung der Nacht zu versenken, die Macht der Finsternis für das künstlerische Schaffen nutzbar zu machen. Wie sonst hätten die überragenden Autoren des Düsteren – Kafka, Dostojewski, Virginia Woolf, Hardy,
Camus, Plath, Poe – die Tragödie beleuchten können, die der menschlichen Existenz innewohnt? Nicht, indem sie sich vom Leben abwandten, nicht, indem sie sich zurücklehnten und das vorüberziehende Schauspiel betrachteten.
Obgleich Goenka behauptete, dass seine Lehre nicht-konfessionell sei, konnte er seinen buddhistischen Hintergrund nicht verleugnen. In seinen allabendlichen werbewirksamen Vorträgen ließ er es sich nicht nehmen zu betonen, dass Vipassana die ureigene Meditationsmethode Buddhas sei, mit der er, Goenka, die Welt jetzt wieder bekannt mache. Pam hatte nichts dagegen. Sie wusste zwar wenig über den Buddhismus, hatte jedoch im Flugzeug einen einleitenden Text gelesen und war von der Macht und Weisheit der vier heiligen Wahrheiten Buddhas beeindruckt gewesen:
Alles Leben ist Leiden.
Die Ursache des Leidens sind die Begierde nach Lust und der Wille zum Leben.
Die Befreiung von den Leidenschaften, vom Willen zum Leben, hebt das Leiden auf.
Der Weg zur Aufhebung des Leidens ist der ›heilige, achtfache Pfad‹.
Jetzt überdachte sie das noch einmal. Während sie so um sich schaute auf die verzückten Goenka-Anhänger, die beruhigten Assistenten, die Asketen in ihren Berghöhlen, zufrieden mit einem Leben, das dem Vipassana-Schmelzen geweiht war, fragte sie sich, ob die vier Wahrheiten wirklich so wahr waren. Hatte Buddha Recht? Oder war sein Heilmittel etwa schlimmer als die Krankheit? Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch verfiel sie in noch größere Zweifel, als sie die kleine Gruppe jainistischer Frauen auf ihrem Weg ins Badehaus beobachtete. Die Jainistinnen erfüllten das Gebot, nicht zu töten, in absurdem Maße: Sie humpelten schmerzlich langsam und wie im Krebsgang den Pfad entlang, weil sie den Kies zunächst sacht abfegen
mussten, damit sie nicht auf ein Insekt traten – eigentlich konnten sie wegen ihrer Gazemasken, die das Einatmen winzigen tierischen Lebens verhinderten, kaum atmen.
Wohin sie auch blickte, sah sie Verzicht, Opfer, Einschränkung und Ergebenheit. Was wurde aus dem Leben? Aus Freude, Entwicklung, Leidenschaft, carpe diem?
War das Leben so qualvoll, dass es dem Gleichmut geopfert werden musste? Vielleicht waren die vier heiligen Wahrheiten kulturgebunden. Vielleicht waren es Wahrheiten für eine Zeit vor zweitausendfünfhundert Jahren in einem Land mit überwältigender Armut, Überbevölkerung, Hungersnöten, Krankheit, Unterdrückung der unteren Klassen und einem Mangel an Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch waren es Wahrheiten, die heute für sie galten? Hatte Marx nicht Recht gehabt? Richteten sich nicht alle Religionen, die auf Erlösung oder einem besseren Leben im Jenseits basierten, an die Armen, die Leidenden, die Versklavten?
Aber, sagte sich Pam (nach einigen Tagen des vornehmen Schweigens neigte sie zu Selbstgesprächen), war sie nicht undankbar? Ehre, wem Ehre gebührt. Hatte die Vipassana-Meditation nicht ihren Zweck erfüllt – ihren Geist beruhigt und ihre obsessiven Gedanken getilgt? Hatte sie nicht Erfolg gehabt, wo all ihre eigenen angestrengten Bemühungen und Julius’ Bemühungen und die der Gruppe versagt hatten? Nun, vielleicht ja,
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