Die Schopenhauer-Kur
einer Weile, sicherlich seit Philips Eintritt in die Gruppe, wusste er wieder genau, was er tat. Er hatte das getan, was ein guter Therapeut tun sollte. Er hatte eins der zentralen Probleme eines Patienten ins Hier und Jetzt überführt, wo es aus erster Hand erkundet werden konnte. Es war immer produktiver, sich auf
das Hier und Jetzt zu konzentrieren, als den Patienten ein Ereignis aus der Vergangenheit oder aus seinem gegenwärtigen Leben außerhalb der Gruppe rekonstruieren zu lassen und damit zu arbeiten.
Während sie ihren Kopf in die Richtung jedes einzelnen Gruppenmitglieds wandte und es kurz anschaute, sagte Bonnie: »Jeder hier ist wichtiger als ich – wesentlich wichtiger.« Ihr Gesicht war gerötet, ihr Atem ging schnell. So sehr sie sich auch nach Aufmerksamkeit von anderen sehnte, so offenkundig war es im Moment, dass sie sich nichts mehr wünschte, als unsichtbar zu sein.
»Seien Sie genauer, Bonnie«, drängte Julius. »Wer ist wichtiger? Wieso?«
Bonnie blickte sich um. »Jeder hier. Sie, Julius – sehen Sie nur, wie sehr Sie allen helfen. Rebecca ist die Traumfrau schlechthin, eine erfolgreiche Anwältin, großartige Kinder. Gill ist Finanzdirektor an einem großen Krankenhaus – und außerdem ein echtes Mannsbild. Stuart – na ja, der ist ein viel beschäftigter Arzt, hilft Kindern, hilft Eltern; der Erfolg steht ihm nur so auf die Stirn geschrieben. Tony . . .« Bonnie hielt einen Moment inne.
»Naaaa? Da bin ich aber gespannt.« Tony, wie stets in Jeans, ein schwarzes T-Shirt und Sneakers gekleidet, die mit Farbflecken bespritzt waren, lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Zunächst mal, Tony, sind Sie Sie selbst – keine Posen, keine Spielchen, sondern pure Ehrlichkeit. Und Sie ziehen über Ihren Beruf her, dabei weiß ich, dass Sie kein gewöhnlicher Tischler sind; wahrscheinlich sind Sie ein Künstler bei Ihrer Arbeit – ich habe das BMW-Cabrio gesehen, in dem Sie rumdüsen. Und Sie sind auch ein echtes Mannsbild, ich liebe Sie in Ihrem engen T-Shirt. War das nicht ganz schön riskant?« Bonnie schaute sich im Kreis um. »Und wer noch? Philip – Sie sind superintelligent, Sie wissen alles – sind Dozent, werden Therapeut, Ihre Worte faszinieren jeden. Und Pam? Pam ist fantastisch, Professorin, Freigeist; sie nötigt allen Aufmerksamkeit
ab; sie ist überall gewesen, kennt jeden, hat alles gelesen, nimmt es mit jedem auf.«
»Irgendwelche Reaktionen auf Bonnies Erklärung, warum sie weniger wichtig ist als die anderen?« Julius ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen.
»Für mich ergibt ihre Antwort keinen Sinn«, meinte Gill.
»Können Sie ihr das direkt sagen?«, sagte Julius.
»Tut mir Leid, was ich meine, ist – das soll keine Beleidigung sein –, aber Bonnie, Ihre Antwort klingt regressiv . . .«
»Regressiv?« Bonnie verzog erstaunt das Gesicht.
»Na ja, in dieser Gruppe geht es doch darum, dass wir alle nur Menschen sind, die versuchen, sich menschlich zueinander zu verhalten, und dass wir unsere Titel, unser Geld und unsere BMW-Cabrios an der Tür abgeben.«
»Amen«, sagte Julius.
»Amen«, fiel Tony ein und fügte hinzu: »Ich sehe das ebenso wie Gill, und nur ganz nebenbei, das Cabrio habe ich gebraucht gekauft und mich damit für die nächsten drei Jahre verschuldet.«
»Und Bonnie«, fuhr Gill fort, »bei Ihrer Aufzählung haben Sie sich genau auf diese Äußerlichkeiten fixiert – Beruf, Geld, erfolgreiche Kinder. Keine davon erklärt, warum Sie die unwichtigste Person in diesem Raum sind. Ich halte Sie für sehr wichtig. Sie sind eine Schlüsselfigur für die Gruppe; Sie interessieren sich für uns alle; Sie sind warmherzig, großzügig; Sie haben mir vor ein paar Wochen, als ich nicht nach Hause wollte, sogar einen Schlafplatz angeboten. Sie sorgen für Konzentration in der Gruppe; Sie arbeiten hart.«
Bonnie konterte. »Ich bin stinklangweilig; mein Leben lang habe ich mich für meine Alkoholiker-Eltern geschämt, immer gelogen, was meine Familie betraf. Sie zu mir einzuladen, Gill, war eine große Sache für mich – ich konnte nie andere Kinder zu mir nach Hause einladen aus Angst, dass mein Vater betrunken aufkreuzen würde. Außerdem war mein Ex-Mann ein Säufer, meine Tochter ist heroinsüchtig . . .«
»Sie reden immer noch um den heißen Brei herum, Bonnie«, sagte Julius. »Sie sprechen von Ihrer Vergangenheit, Ihrer Tochter, Ihrem Ex, Ihrer Familie . . . aber Sie , wo sind Sie?«
»Ich bin das alles, daraus setze ich
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