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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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Hertzfelds Methode zu folgen . . .«
    »Nennen Sie mich Julius.«
    »Ach so, ja. Also, wenn ich nach Julius’ Methode vorgehe, muss ich zunächst überprüfen, ob Tonys Hypothese mit meinem inneren Erleben übereinstimmt.« Philip hielt inne, schüttelte den Kopf. »Ich finde keine Hinweise darauf. Ich habe mich vor vielen Jahren davon freigemacht, der öffentlichen Meinung Wert beizumessen. Ich glaube fest daran, dass die glücklichsten Menschen diejenigen sind, denen nichts so wichtig ist wie das Alleinsein. Ich spreche von dem göttlichen Schopenhauer, von Nietzsche und Kant. Für sie und für mich zählt, dass ein Mensch mit innerem Reichtum nichts von der Außenwelt ersehnt bis auf das negative Geschenk der ungestörten Muße, die es ihm erlaubt, seinen Reichtum – das heißt, seine intellektuellen Fähigkeiten – zu genießen.
    Kurz gesagt komme ich also zu dem Schluss, dass meine Beiträge nicht von einem Versuch herrühren, jemanden zu verführen oder mich selbst in Ihren Augen zu erhöhen. Vielleicht sind noch Spuren dieses Verlangens vorhanden; ich kann nur sagen, dass ich es nicht bewusst erlebe. Allerdings verspüre ich Bedauern darüber, dass ich die großen Denker nur kenne, selbst aber nicht zu ihnen gehöre.«
    In all den Jahrzehnten, in denen Julius Therapiegruppen leitete, hatte er schon oft Schweigen erlebt, doch das Schweigen, das auf Philips Antwort folgte, glich keinem von ihnen. Es war nicht das Schweigen, das mit starken Emotionen einhergeht, oder ein Schweigen, das Unterordnung, Verlegenheit oder Verblüffung signalisiert. Nein, dieses Schweigen war anders, als wäre die Gruppe über eine neue Spezies gestolpert, eine
neue Lebensform, einen sechsäugigen Salamander mit gefiederten Flügeln zum Beispiel, und umkreiste ihn jetzt langsam und mit äußerster Vorsicht und Besonnenheit.
    Rebecca reagierte als Erste. »So genügsam zu sein, so wenig von anderen zu brauchen, sich nie nach der Gesellschaft anderer zu sehnen – das klingt sehr nach Einsamkeit, Philip.«
    »Im Gegenteil«, sagte Philip, »früher, als ich die Gesellschaft von anderen suchte, etwas von ihnen verlangte, was sie mir nicht geben wollten, gar nicht geben konnten – das war Einsamkeit für mich. Gesegnetes Alleinsein ist das, worauf ich aus bin.«
    »Und trotzdem sind Sie hier«, sagte Stuart, »und glauben Sie mir – diese Gruppe ist der Erzfeind des Alleinseins. Warum setzen Sie sich ihr aus?«
    »Jeder Denker muss seine Tätigkeit finanzieren. Entweder er hat das Glück, ein Universitätsstipendium zu bekommen wie Kant oder Hegel, oder er verfügt über eigene Mittel wie Schopenhauer, oder er geht einem Broterwerb nach wie Spinoza, der Brillengläser schliff, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe mir als Broterwerb die philosophische Beratung ausgesucht und brauche diese Gruppenerfahrung für mein Zertifikat.«
    »Das heißt demnach«, sagte Stuart, »dass Sie sich gemeinsam mit uns in der Gruppe engagieren, Ihr Ziel aber letztendlich das ist, dazu beizutragen, dass andere dieses Engagement nicht benötigen.«
    Philip zögerte und nickte dann.
    »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie also«, meinte Tony, »wenn Rebecca auf Sie steht, Sie anmacht, ihre Reize spielen lässt, dann hat das keine Wirkung auf Sie? Null?«
    »Nein, ›keine Wirkung‹ habe ich nicht gesagt. Ich stimme Schopenhauer zu, der schrieb, Schönheit sei ein Empfehlungsschreiben, das das Herz geneigt macht, denjenigen zu begünstigen, der es präsentiert. Ich finde, dass eine Person von großer Schönheit ein wunderbarer Anblick ist. Aber ich sage gleichzeitig,
dass die Meinung eines anderen über mich meine Meinung über mich selbst nicht beeinflusst, nicht beeinflussen darf.«
    »Klingt mechanisch. Nicht so ganz menschlich«, entgegnete Tony.
    »Was ich wahrhaft unmenschlich fand, war die Zeit, in der ich zuließ, dass mein Selbstwertgefühl auf und ab schnellte wie ein Korken, je nachdem, wie viel Zuspruch ich von irrelevanten anderen bekam.«
    Julius starrte Philips Lippen an. Was für ein Wunder sie waren! Wie genau sie Philips gelassene Haltung widerspiegelten, wie unverwandt sie, ohne zu zittern, jedem Wort die perfekte Rundheit in Ausdruck und Tonfall verliehen. Und es war leicht, mit Tonys wachsendem Wunsch, Philip aus der Ruhe zu bringen, zu sympathisieren. Doch da Julius wusste, dass Tonys Impulsivität schnell eskalieren konnte, befand er, dass es an der Zeit sei, die Debatte in ruhigere Gewässer zu lenken.

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