Die Schopenhauer-Kur
Philip war noch nicht zu einer offenen Auseinandersetzung bereit; dies war erst sein viertes Gruppentreffen.
»Philip, Sie haben vorhin zu Bonnie gesagt, Sie würden ihr gern helfen. Und Sie haben auch andere hier beraten – Gill, Rebecca. Können Sie mehr darüber sagen, warum Sie das tun? Mir scheint, an Ihrem Wunsch, Ratschläge zu geben, ist etwas, das über einen Broterwerb hinausgeht. Schließlich gibt es hier keinen finanziellen Anreiz dafür, dass Sie anderen Ihre Hilfe anbieten.«
»Ich versuche, nie zu vergessen, dass wir alle zu einer Existenz voll unausweichlichen Elends verurteilt sind – einer Existenz, die keiner von uns wählen würde, wenn uns die Tatsachen vorher bekannt wären. In dem Sinne sind wir alle, wie Schopenhauer es formulierte, Leidensgenossen und bedürfen der Toleranz und Liebe unserer Mitmenschen.«
»Schon wieder Schopenhauer! Philip, ich höre verdammt noch mal zu viel über Schopenhauer – wer immer das ist – und zu wenig über Sie.« Tony sprach ruhig, als wolle er Philips gemessenen
Tonfall imitieren, doch sein Atem ging flach und schnell. Im Allgemeinen ging Tony keiner Zwistigkeit aus dem Wege; zu Beginn seiner Therapie war kaum eine Woche ohne körperliche Auseinandersetzung in einer Bar, im Straßenverkehr, bei der Arbeit oder beim Basketball vergangen. Er war zwar nicht groß, fürchtete aber keine Konfrontation außer einer – die mit den Ideen eines gebildeten, eloquenten Maulhelden wie Philip.
Philip ließ nicht erkennen, dass er beabsichtigte, Tony zu antworten. Julius brach das Schweigen. »Tony, Sie scheinen in Gedanken versunken. Was geht Ihnen durch den Kopf?«
»Ich habe daran gedacht, dass Bonnie vorhin sagte, sie würde Pam vermissen. Ich auch. Heute habe ich sie vermisst.«
Das wunderte Julius nicht. Tony hatte sich an Pams Anleitung und Fürsorge gewöhnt. Die beiden gaben ein seltsames Pärchen ab – die Englisch-Professorin und der tätowierte Wilde. Einen indirekten Weg wählend, sagte Julius: »Tony, ich vermute, es war nicht leicht für Sie zu sagen: › Schopenhauer, wer immer das ist.‹«
»Na, wir sind doch hier, um die Wahrheit zu sagen«, erwiderte Tony.
»Genau, Tony«, sagte Gill, »und ich bekenne es auch: Ich weiß nicht, wer Schopenhauer ist.«
»Ich weiß nur«, bemerkte Stuart, »dass er ein berühmter Philosoph war. Deutscher, Pessimist. 19. Jahrhundert?«
»Ja, er starb 1860 in Frankfurt«, sagte Philip, »und was seinen Pessimismus betrifft, so ist er für mich eher Realismus. Und Tony, es mag stimmen, dass ich übertrieben oft von Schopenhauer spreche, aber ich habe gute Gründe dafür.« Tony wirkte geschockt darüber, dass Philip ihn persönlich angesprochen hatte. Trotzdem stellte Philip keinen Blickkontakt her. Er starrte jetzt nicht mehr an die Decke, sondern schaute aus dem Fenster, als wäre er von irgendetwas im Garten gefesselt.
Dann fuhr er fort: »Erstens: Schopenhauer zu kennen, heißt, mich zu kennen. Wir sind unzertrennlich, Zwillingsgehirne.
Zweitens hat er mir als Therapeut gedient und unschätzbare Hilfe geboten. Ich habe ihn internalisiert – seine Ideen meine ich natürlich, wie es viele von Ihnen mit Dr. Hertzfeld getan haben. Moment – Julius, meine ich.« Philip lächelte schwach, während er Julius anschaute – sein erster Anflug von Leichtfertigkeit in der Gruppe. »Und schließlich habe ich die Hoffnung, dass einige von Schopenhauers Ansichten Ihnen ebenso von Nutzen sein werden, wie sie es für mich waren.«
Nach einem Blick auf seine Armbanduhr brach Julius das Schweigen, das auf Philips Bemerkung gefolgt war. »Es war ein ergiebiges Treffen, eins von denen, die ich nur ungern beende, aber unsere Zeit für heute ist um.«
»Ergiebig? Habe ich was verpasst?«, murmelte Tony, während er aufstand und zur Tür ging.
»Glücklich ist zu schätzen,
wer gar manche Individualitäten auf immer meiden darf.« Ref 59
21
Zu Beginn des folgenden Treffens, als Bonnie Julius eben fragen wollte, ob Pam von ihrer Reise zurück sei, machte Pam die Tür auf, breitete die Arme aus und rief laut: »Hallooo!« Jeder, bis auf Philip, stand auf und begrüßte sie. In ihrer einmalig liebevollen Art schritt sie den Kreis ab, schaute allen in die Augen, umarmte sie, küsste Rebecca und Bonnie, zauste Tonys Haare, hielt Julius, als sie zu ihm kam, eine ganze Weile umschlungen und flüsterte: »Danke, dass Sie am Telefon so ehrlich waren. Ich bin am Boden zerstört, mache mir solche Sorgen um Sie; es tut mir
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