Die Schopenhauer-Kur
hatte, ergriff Julius das Wort: »Wie grauenhaft, Pam, mit achtzehn auf diese Art erwachsen zu werden. Die Tatsache, dass Sie mit mir oder der Gruppe nie darüber geredet haben, bestätigt die Schwere des Traumas. Und eine lebenslange Freundin auf diese Weise zu verlieren! Das ist wirklich furchtbar. Aber ich möchte noch etwas anderes sagen. Es ist gut, dass Sie heute geblieben sind. Es ist gut, dass Sie darüber gesprochen haben. Ich weiß, es wird Ihnen missfallen, dass ich das sage, aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht für Sie, dass Philip hier ist. Vielleicht können wir daran arbeiten, eine Heilung zu erreichen. Für Sie beide.«
»Sie haben Recht, Julius – es missfällt mir wirklich, dass Sie das sagen, und noch mehr missfällt es mir, dieses Ungeziefer wieder vor Augen zu haben. Und das in meiner eigenen Gruppe, in der ich mich zu Hause gefühlt habe. Ich fühle mich beschmutzt.«
Julius schwirrte der Kopf. Zu viele Gedanken verlangten seine Aufmerksamkeit. Wie viel konnte Philip aushalten? Selbst er musste seine Belastungsgrenze haben. Wie lange würde es noch dauern, bis er den Raum verließ, um nie wieder zurückzukehren? Und als er sich Philips Abgang ausmalte, erwog er auch dessen Konsequenzen – für Philip, aber in erster Linie für Pam; sie lag ihm weitaus mehr am Herzen. Pam war ein großartiger Mensch, und er wollte ihr unbedingt helfen, sich eine bessere Zukunft zu erschließen. Wäre ihr damit gedient, wenn Philip ginge? Vielleicht würde es ihr Rachebedürfnis befriedigen – aber was für ein Pyrrhussieg! Wenn ich eine Möglichkeit fände, dachte Julius, dazu beizutragen, dass sie ihm vergeben kann, wäre das sehr heilsam für sie – und vielleicht auch für Philip.
Julius zuckte fast zusammen, als ihm dieses Modewort, vergeben, in den Kopf kam. Von all den Bewegungen der jüngsten
Zeit, die das Gebiet der Psychotherapie heimsuchten, ärgerte ihn der Wirbel um »Vergebung« am meisten. Er hatte wie jeder erfahrene Therapeut schon immer mit Patienten gearbeitet, die nicht loslassen konnten, die ihren Groll nährten, die keinen Frieden finden konnten – und er hatte immer eine Vielzahl von Methoden verwendet, um seinen Patienten das »Vergeben« zu erleichtern – das heißt, sich von ihrer Wut und ihrem Ärger zu befreien. Tatsächlich verfügte jeder erfahrene Therapeut über ein ganzes Arsenal von »Loslass«-Techniken, die er oft einsetzte. Doch die schlau vereinfachende »Vergebungs«-Industrie hatte diesen einen Aspekt der Therapie vergrößert, hervorgehoben, als allein selig machende Weisheit vermarktet und präsentiert, als wäre er etwas völlig Neues. Und diese Masche war dadurch respektabel geworden, dass sie so gut in das gegenwärtige soziale und politische Klima des Vergebens passte, das sich auf eine ganze Bandbreite von Verbrechen bezog, vom Völkermord über die Sklaverei bis zur kolonialen Ausbeutung. Sogar der Papst hatte kürzlich für die Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer des 13. Jahrhunderts um Vergebung gebeten.
Und wenn Philip Reißaus nahm, wie würde er als Gruppentherapeut sich dann fühlen? Julius war entschlossen, Philip nicht im Stich zu lassen, doch es war schwer, Mitgefühl für ihn zu empfinden. Vor vierzig Jahren hatte er als junger Student eine Vorlesung von Erich Fromm gehört, in der dieser Terenz’ vor über zweitausend Jahren verfasstes Epigramm zitierte: »Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches sei mir fremd.« Fromm hatte betont, dass ein guter Therapeut gewillt sein müsse, seine eigenen dunklen Seiten zu akzeptieren und sich mit allen Fantasien und Impulsen seiner Patienten zu identifizieren. Das versuchte Julius jetzt. Philip hatte also eine Liste von Frauen gemacht, die er gevögelt hatte? Hatte er selbst das in jüngeren Jahren nicht auch getan? Mit Sicherheit. Und das galt für viele Männer, mit denen er darüber gesprochen hatte.
Und er rief sich ins Gedächtnis, dass er eine Verantwortung
gegenüber Philip hatte – und gegenüber Philips künftigen Klienten. Er hatte Philip eingeladen, sein Patient und Schüler zu werden. Ob es ihm gefiel oder nicht, Philip würde dereinst viele Klienten haben, und wenn er ihn jetzt gehen ließe, wäre er ein schlechter Therapeut, ein schlechter Lehrer, ein schlechtes Vorbild – und unmoralisch obendrein.
Mit diesen Überlegungen im Kopf sann Julius darüber nach, was er sagen sollte. Er begann, eine Äußerung zu formulieren, die mit seinem altbekannten Ich
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