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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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zu lassen und rumzuvögeln. Ich war in jeder Hinsicht erfolglos, und dann hatte als Krönung des Ganzen mein Rückflug nach Miami Verspätung, und ich verpasste meinen Anschluss nach Kalifornien. Ich musste die Nacht in einem Flughafenhotel verbringen und war in jämmerlicher Stimmung.«
    Die anderen Gruppenmitglieder horchten auf – das war eine neue Seite an Stuart.
    »Ich checkte gegen halb zwölf im Hotel ein, nahm den Fahrstuhl rauf in den sechsten Stock – komisch, wie deutlich die Details sind – und ging den langen, stillen Korridor entlang zu meinem Zimmer, als plötzlich eine Tür aufging und eine aufgelöste, zerzauste Frau im Nachthemd heraustrat – attraktiv, großartige Figur, etwa zehn bis fünfzehn Jahre älter als ich. Sie packte mich am Arm – ihr Atem roch nach Alkohol – und fragte, ob ich jemanden im Flur gesehen hätte.
    ›Nein, niemanden, wieso?‹, erwiderte ich. Daraufhin erzählte sie mir eine lange, weitschweifige Geschichte von einem Boten, der sie eben um sechstausend Dollar geprellt habe. Ich schlug vor, sie möge den Empfang oder die Polizei anrufen, doch sie zeigte ein merkwürdiges Desinteresse daran, in Aktion zu treten. Dann winkte sie mich in ihr Zimmer. Wir unterhielten uns, und ich versuchte, ihr ihre Überzeugung – offensichtlich
eine Einbildung – auszureden, dass sie beraubt worden war. Eins führte zum anderen, und bald landeten wir im Bett. Ich fragte sie mehrmals, ob ihr das auch recht sei, ob sie wirklich mit mir schlafen wolle. Sie wollte, und wir taten es, und ein, zwei Stunden später, als sie schlief, ging ich in mein Zimmer, schlief ein paar Stunden und nahm einen frühen Flug. Kurz bevor ich ins Flugzeug stieg, rief ich anonym im Hotel an, um ihnen zu sagen, dass sie in Zimmer 712 einen Gast hatten, der eventuell ärztliche Hilfe benötigte.«
    Nach ein paar Momenten des Schweigens fügte Stuart hinzu: »Das war’s.«
    »Das war’s?«, fragte Tony. »Eine sternhagelvolle, gut aussehende Braut lädt Sie in ihr Hotelzimmer ein, und Sie geben ihr, wonach sie verlangt? Mann, das hätte ich mir auch nicht entgehen lassen.«
    »Nein, das war’s nicht!«, sagte Stuart. »Es geht darum, dass ich Arzt war und eine Kranke, wahrscheinlich mit beginnenden oder ausgewachsenen, durch Alkohol verursachten Halluzinationen, meinen Weg kreuzte und ich sie vögelte. Das ist eine Verletzung des hippokratischen Eides, ein schweres Vergehen, und ich habe es mir nie verziehen. Ich komme nicht los von dem Abend – er ist in mein Gedächtnis eingebrannt.«
    »Sie sind zu streng mit sich, Stuart«, sagte Bonnie. »Diese Frau ist einsam, hat was getrunken, tritt in den Flur raus, sieht einen attraktiven jüngeren Mann und lädt ihn in ihr Bett ein. Sie hat nur gekriegt, was sie wollte, was sie brauchte, vielleicht. Wahrscheinlich haben Sie ihr gut getan. Wahrscheinlich war das für sie eine Glücksnacht.«
    Andere – Gill, Rebecca, Pam – setzten ebenfalls zum Sprechen an, doch Stuart kam ihnen zuvor. »Ich weiß es zu schätzen, was Sie da sagen – Sie wissen gar nicht, wie oft ich mir Ähnliches auch schon gesagt habe –, aber es geht mir wirklich, wahrhaftig nicht um Bestätigung. Ich wollte Ihnen einfach nur davon erzählen, diese erbärmliche Tat aus so vielen Jahren des Dunkels ans Licht befördern – das reicht.«

    Bonnie entgegnete: »Das ist gut. Es ist gut, dass Sie es uns erzählt haben, Stuart, aber es passt zu etwas, über das wir schon mal geredet haben: zu Ihrem Widerwillen dagegen, Hilfe von uns anzunehmen. Sie sind prima, wenn es darum geht, anderen zu helfen, können sich aber nicht so gut von uns helfen lassen.«
    »Ärztliche Reflexe vielleicht«, erwiderte Stuart. »Im Medizinstudium habe ich nicht gelernt, Patient zu sein.«
    »Haben Sie denn nie dienstfrei?«, fragte Tony. »Ich glaube, in der Nacht damals hatten Sie dienstfrei. Mitternacht mit einer beschwipsten, geilen Braut – los, Mann, ins Bett mit ihr, amüsieren Sie sich.«
    Stuart schüttelte den Kopf. »Vor einiger Zeit habe ich mir ein Band angehört, auf dem der Dalai Lama zu buddhistischen Lehrern sprach. Einer von ihnen befragte ihn über Verausgabung und wollte wissen, ob es nicht gut wäre, sich regelmäßig auszuruhen, dienstfrei zu haben. Die Antwort des Dalai Lama war köstlich: Dienstfrei? Buddha sagt: ›Tut mir Leid, ich habe dienstfrei!‹ Jesus wird von einem Leidenden angesprochen und erwidert: ›Tut mir Leid, ich habe heute dienstfrei!‹ Der Dalai Lama

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