Die schottische Braut
werden.”
Miss Lennox nannte er sie nun also? Ein Wunder, dass sie keine Frostbeulen von
Mr
Chisholms kalter Höflichkeit bekam. Jennys Züge wurden zu einem Spiegelbild seines hochmütigen Ausdruckes. Sie fühlte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. Verflucht seien diese unruhigen Küstengewässer. Ihre Augen begannen zu brennen. Verdammt sei dieser salzige Wind!
“Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich dafür verantwortlich wäre, Ihre wertvolle Zeit zu beanspruchen, Sir. Nicht, wenn Sie bedeutende Pläne zu machen und wichtige Entscheidungen zu überdenken haben.” Sie riss ihm das Buch aus der Hand. “Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass … dieser Leseunterricht Ihre Idee war und nicht meine. Sie können also aufhören, so zu tun, als hätte ich Sie zu sehr in Anspruch genommen.”
Harris widerstrebte es, ihrem herausfordernden Blick zu begegnen. “Ich dachte nur, es sei an der Zeit, dass Sie sich daran gewöhnen, allein zu lesen. Bald werde ich nicht mehr in Ihrer Nähe sein.”
Der Gedanke erschreckte Jenny. Diese Verstimmung, diese plötzliche unerklärliche Feindseligkeit zwischen ihnen, rief seltsame und unerwünschte Gefühle in ihr hervor. Verdammt sei Harris Chisholm dafür, dass er sie so aufgewühlt hatte!
“Ohne Zweifel werden Sie froh sein, mich wieder los zu sein”, meinte sie kalt.
“Das wollte ich damit nicht sagen.”
“Oh, tatsächlich, das wollten Sie nicht? Ich bin sicher, Sie sind zu höflich, um es offen auszusprechen. Wie auch immer, Sie müssen erleichtert sein, wenn ich Sie nicht weiter belästige.”
“Nun hören Sie …”
“Ich bin bereit, Sie hier und sofort aller Ihrer Pflichten zu entheben”, drängte Jenny weiter. Sie war stolz, dass sie einige eindrucksvolle Worte aus ihrem wachsenden Sprachschatz verwenden konnte. “Ich habe von keinem Mann auf diesem Schiff etwas zu befürchten. Mein Vater ist tausend Meilen weg. Er wird niemals etwas davon erfahren. Betrachten Sie Ihre Aufgabe für ehrenvoll erledigt. Somit können wir getrennte Wege gehen.”
Eine Schar Möwen kreiste am Himmel über dem Hauptmast der Bark und kreischte schrill. Ehe Harris Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, drehte sich Jenny um und huschte davon. Wie einen schützenden Schild drückte sie das schwere Buch von Walter Scott an sich.
In ihrer dunklen, engen Kajüte machte Jenny bei der heftig hin und her schaukelnden Laterne starrköpfig den Versuch zu lesen. Sie bewegte die Lippen bei jeder Zeile und presste sie ärgerlich zusammen, wenn sie auf ein unbekanntes Wort stieß.
In den Hades mit Harris Chisholm! Jenny umklammerte mit ihren schmalen Fingern die Seiten des Buches. Sie hatte eine Vertrautheit zu ihm gespürt, eine Freundschaft, die noch tiefer war als die, die sie mit Kirstie Robertson verbunden hatte. Die Entdeckung schmerzte, dass er in ihrer Gegenwart nur gelitten hatte. Ungeduldig hatte er wohl den Augenblick erwartet, bis sie Amerika erreichten. Dann wollte er sie zu Roderick Douglas schieben, wie ein widerliches Paket, von dem man froh ist, es los zu sein.
Plötzlich bemerkte sie, dass sich die Schritte auf Deck beschleunigten. Wie lange war ich schon in der Kajüte?, fragte sich Jenny. Vielleicht hatten sie den Canso bereits erreicht. Jenny schloss das dicke Buch und legte es auf die Koje. Daraufhin strich sie die Röcke glatt und schob einige gelöste Locken sittsam zurück. Sie wollte nach oben gehen, um einen Blick auf Amerika zu werfen, wenn die
St. Bride
durch den engen Kanal segelte. Sie würde einer
bestimmten
Person zeigen, dass sie sehr gut allein zurechtkam.
Als Jenny das Deck betrat, blinzelte sie, geblendet vom strahlenden Licht der Nachmittagssonne. Und im nächsten Moment stieß sie mit der großen, kräftigen Gestalt von Harris Chisholm zusammen.
“Jenny.” Er packte sie bei den Schultern. “Sie müssen sofort nach unten gehen.”
Sie riss sich von ihm los und maß Harris kühl von Kopf bis Fuß. “Ich würde es begrüßen, wenn Sie mir den Weg frei machen würden, Sir.”
Ungeachtet ihrer hochmütigen Erwiderung schlug Jennys Herz verräterisch schnell. Harris hatte sie bei ihrem Vornamen genannt, und zwar sanft und ohne eine Spur jener Kälte, die er ihr kurz zuvor entgegengebracht hatte.
“Ich habe nicht die Zeit, Jenny, mich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Sie werden nach unten gehen.” Damit packte er sie um die Taille und warf sie sich mühelos über die Schulter.
“Lassen Sie mich herunter, Harris Chisholm!” Sie
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