Die schottische Braut
löste sie die Hand von Harris. Sie schuldete ihm mehr als ein Grab in den Tiefen des Meeres.
6. KAPITEL
“Jenny!”
Harris spürte, wie ihr Griff plötzlich nachließ. Er vernahm einen Schrei, als sie über Bord stürzte.
Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Die
St. Bride
mochte jeden Moment von der Barre wieder freikommen und konnte von der Stelle, wo Jenny in die Tiefe gestürzt war, weit fortgetrieben werden. Sein Selbsterhaltungstrieb sagte ihm, dass es sinnlos sei, ihr zu folgen. In solch einem Sturm war Jenny mit Sicherheit verloren.
Doch schon im nächsten Moment tauchte Harris hinab in die schäumenden Wogen.
Er stemmte sich gegen die tosenden Wellen. Das salzige, schlammige Meerwasser drang ihm in Mund und Nase. Es brannte in seinen Augen. Er drängte das Wasser aus seinen Lungen und holte von Zeit zu Zeit Luft an der Oberfläche.
Er ließ sich von den Brechern treiben. Er kämpfte um jeden Atemzug, und vage nahm er den schwachen Schatten der
St. Bride
wahr, der sich von ihm fortbewegte.
“Jenny!” schrie er erneut und lauschte angestrengt, um eine Antwort zu vernehmen, und sei sie noch so schwach. “Jenny, wo bist du?”
Er rief immer wieder nach ihr, ohne zu beachten, wie eine Woge nach der anderen über ihn hinwegrollte. Selbst als seine Vernunft ihm sagte, dass jede Hoffnung vergeblich war, hörte er nicht auf, ihren Namen zu rufen.
“Harris?”
Es war nicht mehr als ein Seufzen im Wind, und er fragte sich, ob ihm nicht seine schwindenden Sinne einen Streich spielten. Oder war es ihre sterbende Seele, die ihn zu einer letzten gemeinsamen Reise überreden wollte?
Es kümmerte ihn nicht.
Sie hatte seinen Namen gerufen, und er musste antworten.
“Hier, Jenny! Hier bin ich. Kannst du zu mir kommen, Mädchen?”
“Harris!” Diesmal klang es lauter und näher. Eine menschliche Stimme, erschöpft und voller Angst.
Mit aller Kraft kämpfte er gegen die Wogen an, schwamm dem Klang entgegen, verzweifelt ihren Namen rufend, wann immer er genug Luft in den Lungen hatte.
Dann war sie plötzlich da. Ein lebendes Wesen in der endlos scheinenden, sturmgepeitschten nächtlichen See. Die Erleichterung, sie wiedergefunden zu haben, war so groß, dass ihm die Sinne nun endgültig zu schwinden drohten. Harris hatte Jenny noch an sich gezogen, und sie wehrte sich auch dann nicht, als sie unter die Wellen sanken in das stille Wasser.
Und sie hätten wohl da geendet, hätten Harris’ Füße nicht festen Boden unter sich gespürt. Das konnte doch nicht sein …
Mit letzter Kraft versuchte er, sich aufzurichten. Zu seiner Überraschung reichten Kopf und Schultern über die Wasseroberfläche hinaus – zumindest zwischen den einzelnen Brechern. Sein verwundeter Arm war nahezu gefühllos. Er zog Jenny zu sich hoch.
Gemeinsam rangen sie nach Luft, bis Harris keuchen konnte: “Ich spüre Grund, Jenny! Wir müssen nahe der Küste sein.”
“Küste? Dann sind wir gerettet!” Sie klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. Jenny begann zu schluchzen.
Harris hielt sie fest – und wunderte sich, wie natürlich es sich anfühlte, sie in den Armen zu halten. Er wünschte, dieser Augenblick würde niemals enden.
Doch wie so viele süße Erfahrungen war ihre Zeit begrenzt.
Als Jennys Schluchzen verstummte, spürte er, wie sie zitterte. Bisher war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich über Wasser zu halten, als dessen Temperatur zu bemerken.
“Wir müssen an Land, ehe dir noch kälter wird.” Zögernd unternahm er in jede Richtung einige Schritte, um so herauszufinden, wo sich seichteres Wasser befand und somit vielleicht das Ufer.
“Was würde ich für ein bisschen Licht geben”, meinte er. Auch ihn fröstelte jetzt.
Vorsichtig begann er, sich vorwärts zu bewegen. Es ermutigte ihn, dass sein Oberkörper mehr und mehr aus dem Wasser kam.
“Da, nun kann auch ich den Grund spüren!” rief Jenny. “Komm schon, Harris, das Ufer kann nicht mehr weit sein.”
Sie taumelten noch einige Schritte weiter, ehe Harris es bemerkte.
“Bleib stehen, Jenny. Komm zurück. Das Wasser wird wieder tiefer.”
“Nein, das wird es nicht”, widersprach sie. “Das kann nicht sein.” Ein trauriger Ton in ihrer erschöpften Stimme sagte Harris, dass sie die Wahrheit erkannte, selbst als sie diese leugnete.
“Das muss eine dieser Sandbänke sein, auf die das Schiff aufgelaufen ist”, sagte er. “Gott allein weiß, wie weit es zur Küste ist.”
“Was können wir tun?” jammerte
Weitere Kostenlose Bücher