Die Schreckenskammer
zufrieden. Aber natürlich begriff ich auch, dass es einen Grund für diese Einladung gab.
»Ich habe den Befehl erhalten, gegen ihn vorzugehen«, sagte der Bischof schließlich, »zunächst nur wegen seines Überfalls auf Jean le Ferron. Im Verlauf der Ermittlungen werden wir mehr Beweise sammeln, um eine Anklage wegen Mordes zu untermauern.« Er zögerte, als würde das die harten Worte lindern, die nun folgten.
»Und es wird eine Inquisition geben.«
Ich lehnte mich zurück und dachte einen Augenblick über die Ereignisse der letzten Zeit nach. Ich kniff fest die Augen zusammen, um die dunklen, taumelnden Bilder zu verscheuchen, die durch meine Seele marschierten wie eine Armee von Invasoren. Ich hatte es nicht gewagt, irgendjemandem zu erzählen, dass ebendieser Ansturm verrückter Visionen, die immer häufiger und mit immer größerer Macht kamen, aus mir das düstere, grübelnde alte Weib machten, dem mein jüngerer Bruder Demien offensichtlich aus dem Weg gehen wollte. Hätte ich etwas erzählt, hätte man mich weggesperrt, da alle überzeugt wären, ich könne nicht länger bei Verstand sein. Es war immer dasselbe: ein dunkler und gesichtsloser Unhold in voller Rüstung, der ein blutiges Schwert schwang. Er ritt auf einem Tier, das ich nicht benennen konnte, und stürzte mit hoch erhobenem Schwert auf mich zu, um mir ein Kind aus den Armen zu reißen und es, am Nacken gepackt, fortzutragen wie ein Raubvogel. Er warf das Kind in die Luft und schlug ihm, als es wieder zu Boden fiel, mit einem einzigen, mächtigen Hieb den Kopf ab.
Ich wusste, wer hinter dieser eisernen Maske steckte. Aber wie konnte er so heimtückisch diesen Säugling abschlachten, der doch nur er selber sein konnte? Ich brachte kaum ein Flüstern zustande.
»Kann es nicht vermieden werden?«
Jean de Malestroit streckte die Hand über den Tisch. Als unsere Finger sich vereinigten, sagte er: »Nicht einmal Jesus konnte den Kelch vermeiden, den Sein Vater Ihm gab.«
»Was geschieht jetzt?«
Von irgendwo unter dem Tisch zog der Bischof einen Folianten mit Pergamenten heraus und gab ihn mir.
»Das ist ein Entwurf dessen, was kopiert und veröffentlicht wird.«
Er war in seiner eigenen Handschrift geschrieben. Vor mir lag die sorgfältig formulierte Eröffnungsanklage, die Gilles de Rais letztendlich in die Knie zwingen würde. Man hatte mir die Gelegenheit gewährt, sie zu lesen, bevor die Bedingung der Veröffentlichung erfüllt wurde.
In der Tat eine bittersüße Ehre.
Allen, die diese Briefe lesen, geben wir, Jean, dank göttlicher Zulassung und der Gnade des Heiligen Apostolischen Stuhls Bischof von Nantes, unseren Segen im Namen unseres Herrn und verlangen, dass Ihr diese Briefe zur Kenntnis nehmt.
Hiermit wird bekannt gegeben, dass bei dem Besuch der Gemeinde von Saint-Marie in Nantes, in welcher der unten erwähnte Gilles de Rais häufig in dem Haus mit dem Namen La Suze logiert und ein Gemeindemitglied besagten Sprengels ist, und beim Besuch anderer, ebenfalls unten erwähnter Kirchengemeinden, uns zuerst häufige und öffentliche Gerüchte erreichten, und dann Beschwerden und Erklärungen guter und besonnener Leute.
Die Liste, die folgte, war lang und schmerzvoll zu lesen, denn im Verlauf meiner Ermittlungen hatte ich einige dieser Leute kennen gelernt: Agathe, Frau von Denis de Lemion; die Witwe von Regnaud Donète; Jeanne, Witwe von Guibelet Delit; Jean Hubert und seine Frau; Marthe, Witwe von Yvon Kerguen; Jeanne, Frau von Jean Darel; Tiphaine, Frau von Eonnet le Charpentier. Alle waren Gemeindemitglieder in Sprengeln im Umkreis von Liegenschaften, die Gilles de Rais gehörten oder gehört hatten; die Kirchen standen neben den Namen der Zeugen.
Wir, die wir diese Kirchen unserem Amte gemäß besuchten, ließen die Zeugen gewissenhaft befragen und haben aus ihren Aussagen erfahren, dass, neben anderen Dingen, derer wir uns gewiss sind, der Edelmann Gilles de Rais, Ritter, Herr und Baron besagten Ortes, unser Untertan und unter unsere Gerichtsbarkeit fallend, zusammen mit gewissen Komplizen vielen jungen und unschuldigen Knaben die Köpfe abschlug, sie also derart tötete und abscheulich massakrierte, dass er sich mit diesen Knaben abartiger Lust und dem Laster der widernatürlichen Unzucht hingab, oft Dämonen anrief oder andere dazu verleitete, ihnen opferte oder Pakte mit ihnen schloss und andere ungeheure Verbrechen innerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs verübte; und durch die Nachforschungen unserer
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