Die Schreckenskammer
Makellosigkeit würde eine Zusammenarbeit zwischen Herzog Jean und dem König erfordern«, sagte ich, »denn ihre Interessen sind nicht im Einklang.«
Einen Augenblick schaute er mich stumm an. »Bei allen Heiligen, Guillemette, ich glaube, als Äbtissin seid Ihr am falschen Platz, Ihr solltet Diplomatin sein. Warum habe ich diese Qualitäten an Euch nicht schon früher bemerkt?«
Nun, sie waren wohl eben erst zum Vorschein gekommen.
Für mich hatte es den Anschein, dass Gerechtigkeit das Beste war, was Gilles de Rais noch erhoffen konnte, da jede Art von Entlastung nicht mehr möglich war. Für Jean de Malestroit bot sie sich als geeignetes Mittel an, mit dem er die Würde der Kämpfer in dieser rechtlichen Schlacht und auch die Rechtmäßigkeit des Ausgangs wahren konnte. Wir redeten noch ein wenig länger über das Vorgehen, mit dem diese Gerechtigkeit zu erreichen war; ich wusste, dass Seine Eminenz noch viele Gespräche mit jenen Männern führen würde, die mit ihm am Richtertisch stehen würden, und ich bemerkte, dass er in unseren Gesprächen für das übte, was ihm bevorstand.
»Allmählich denke ich, es wäre das Beste«, beschloss der Bischof laut eine seiner Grübeleien, »wenn König Charles die Herrschaft über Milords Besitzungen in Frankreich an Herzog Jean übergibt. Aber es wird ihm wohl nicht gefallen, dieses Zugeständnis an seinen Rivalen öffentlich zu machen.«
»Dann würde vielleicht ein Vermittler weiterhelfen, einer, der beiden Teilen Peinlichkeiten erspart. Vielleicht der Bruder des Herzogs, Arthur«, schlug ich vor. »Er ist der Kronfeldherr Frankreichs und als solcher ein Vertrauter des Königs.«
»Es besteht noch immer eine kindische Rivalität zwischen dem Herzog und Arthur. Man hofft, dass dieser Bruderzwist, sofern man helfend eingreift, sich besser entwickelt, als es bei Kain und Abel geschah.«
Ich hatte meine Zweifel. Ich überlegte kurz, ob es eine solche Rivalität auch zwischen meinen Söhnen gäbe, wäre Michel noch bei uns. Es gab eigentlich nichts, worüber sie sich hätten streiten können, keinen Grundbesitz, kein Geld und keinen Titel. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war die Verbindung mit Gilles de Rais – Michel als Knabe, Jean als junger Mann. Oft habe ich mich tief in meinem Herzen gefragt, warum Gilles sich solche Mühe gemacht hatte, Jean zu helfen, ihm eine so gute Stellung in Avignon zu verschaffen. Vielleicht, weil er ein wenig wahre Brüderlichkeit nötig hatte; seine noch bestehende Rivalität mit seinem leiblichen Bruder René hatte begonnen, als Jean de Craon sein Schwert René vermachte und nicht Gilles, wie allgemein erwartet wurde. Seitdem gab es immer Händel zwischen den beiden.
»Bruderschaft ist oft eine schwierige Art der Verwandtschaft, auch wenn man hoffen möchte, dass es anders wäre«, sagte ich.
»Aber der Herzog und Arthur werden unter den gegebenen Umständen ihre Schwierigkeiten doch sicherlich überwinden. Mit ein wenig Hilfe, natürlich.«
»Man hofft es. Es wäre für alle Beteiligten von großem Nutzen.«
Seine Eminenz besprach sich später an diesem Tag mit seinen Beratern, die ihm zustimmten, dass dies eine ausgezeichnete Vorgehensweise sei. Ein Brief wurde aufgesetzt, der Herzog Jean vorschlug, er möge sich mit seinem mächtigen Frère Arthur treffen, um seine Absichten in Bezug auf Milord zu besprechen.
Wenn Ihr die Absicht habt, Tiffauges und Pouzages zur Begleichung der Milord Gilles auferlegten Strafe zu beschlagnahmen, müsst Ihr zuerst Euren Bruder dazu bewegen, den König zu überzeugen, dass er Euch dies ohne Einmischung gestattet. Das ist für alle Beteiligten der vernünftigste Weg.
Natürlich würde all diese Brillanz vergebens sein, sollte Charles plötzlich Gewissenbisse bekommen ob seiner Schuld gegenüber Gilles wegen der Unterstützung der Jungfrau, ohne deren Siege er nie gekrönt worden wäre. Aber seit er diese Schuld eingegangen war, war mehr als ein Jahrzehnt vergangen – und fast ein Jahrzehnt seit ihrer Hinrichtung. Ob langes Gedächtnis oder nicht, Charles würde diese Schuld nur bezahlen, wenn man sie direkt einforderte. Für mich hatte es den Anschein, als wüssten Bauern immer, wann ihre Schulden fällig sind, während Könige ihre Gläubiger brauchten, um sie daran zu erinnern.
Wir saßen auf unseren Pferden und betrachteten die Festung in Vannes. Wie viele dieser riesenhaften Gebäude hatte ich in meinen Tagen auf dieser Erde schon gesehen? Oft denke ich mir, Leute von
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