Die Schreckenskammer
niedriger Geburt können sich kaum vorstellen, welche Intrigen sich auf der anderen Seite der schlammigen Gräben abspielen. Als Frau von mittlerer Geburt hatte ich genug gesehen, um zu wissen, dass vieles davon unheilig war.
Innerhalb dieser Mauern, auf deren Zinnen Herzog Jeans Standarte wehte, hatte eine Begegnung zwischen Brüdern stattgefunden, bei der sie unter der Leitung Seiner Eminenz Jean de Malestroit, durch göttliche Bestimmung Bischof von Nantes, zu einer Einigung gelangt waren. Arthur de Richemont, Kronfeldherr von Frankreich, Freund und Verbündeter des Königs, würde Gilles de Rais’ Ländereien in Frankreich, darunter auch Tiffauges und Pouzages, besetzen. Herzog Jean wurde so die Peinlichkeit erspart, es selbst tun zu müssen. König Charles wurde der Anschein der Einwilligung erspart und die Schmach, dass sein Verrat gegenüber Gilles de Rais öffentlich bekannt wurde. Als Gegenleistung würde De Richemont bretonische Ländereien erhalten, sobald diese rechtmäßig beschlagnahmt werden konnten.
Wir reisten von Vannes nach Tiffauges, wo De Richemont sich mit uns traf. Die Beschlagnahme von Tiffauges verlief schnell und ohne Blutvergießen. Der Priester Jean le Ferron, der nach seiner Demütigung durch Milord Gilles bei dem Angriff auf Saint-Etienne noch immer dort eingekerkert war, wurde nun endlich in unsere Obhut übergeben. Der arme Mann trug noch immer die entzündeten roten Wunden seiner Schläge, doch ritt er mit in würdevollem Triumph erhobenem Kopf über die Zugbrücke. Er sprach kein Wort, während wir ihn zurück nach Nantes begleiteten, wo wir ihn seinem Bruder Geoffrey übergaben.
Nun konnte es keinen Zweifel mehr geben, dass Gilles de Rais von seiner hohen Mauer des Ruhms stürzen und sich nie wieder erheben würde.
Ein kühler Wind aus dem Westen kniff mir in die Knöchel, während ich auf einem hölzernen Podest stand und die Arme ausstreckte, um die Äpfel an den höchsten Ästen zu pflücken. Jean de Malestroit war so beschäftigt mit den Vorbereitungen für Milords Vernichtung, dass er meiner weniger bedurfte, was mir, je nach meiner Stimmung, einmal mehr, einmal weniger gefiel. Einfache Ernteaufgaben brachten mir Frieden: Ich trug Kisten für einige meiner betagten Schwestern, deren Bereitschaft größer war als ihre Kraft, und wurde dafür belohnt mit einem Trugbild der Jugend. Ich hielt Leitern, während junge Brüder in den Himmel stiegen, um Gottes Gaben zu ernten. Ich tröstete eine Novizin, die unabsichtlich einen halben Wurm gegessen hatte, indem ich ihr sagte, diese schleimigen Dinger hätten einen verborgenen medizinischen Nutzen und würden oft in äußerst schwierig herzustellenden Tränken versteckt – das hatte eine erfahrene Hebamme mir erzählt. All diese kleinen Dienste waren mir Hilfsmittel, um mich in die Freuden des Augenblicks zu versenken, ohne über die Schrecken nachzudenken, die uns sicherlich noch bevorstanden. Aber Zufriedenheit ist immer abhängig von den Launen Gottes, und so war es auch an diesem Tag. Hoch oben auf meiner hölzernen Kiste war ich die Erste, die den jungen Mönch sah, der aus dem Bischofspalast und in den Obstgarten gelaufen kam. Neugierig sah ich zu, wie dieser Priesterknabe zu Frère Demien ging, der ihm einen Augenblick zuhörte und dann in meine Richtung schaute.
Ich stieg von meiner Kiste herunter, wählte aus meinem Korb den vollkommensten Apfel aus, den ich finden konnte, und rieb ihn kräftig an meinem Ärmel. Als Frère Demien dann vor mir stand, überreichte ich ihn ihm mit übertriebenem Zeremoniell.
»Ich glaube, wir sind dieses Jahr gesegnet«, sagte er, als er ihn entgegennahm.
»Das sind wir«, entgegnete ich. »Ich genieße diese ruhigen Stunden des Erntens sehr.«
»Dann fürchte ich, ich muss Euren Genuss unterbrechen. Seine Eminenz wünscht Euch zu sprechen.«
»Ah, Guillemette«, sagte Jean de Malestroit, als ich eintrat. »Warum diese finstere Miene?«
»Ist es denn nicht unnatürlich, sich an einem so herrlichen Tag innerhalb steinerner Mauern aufzuhalten?«
»Womöglich hat Frère Demiens übertriebene Liebe zum Garten auch Euch ergriffen?« Er zögerte einen Augenblick, als würde er etwas noch einmal überdenken, und sagte dann: »Verzeiht mir, dass ich Euch aus Eurer Gemütsruhe reiße. Aber ich dachte mir, Ihr würdet dies gern sehen, bevor andere es zu sehen bekommen.«
Er reichte mir ein mit einer unbekannten Handschrift verfasstes Pergament. Während ich mich auf einen Stuhl setzte,
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