Die Schreckenskammer
beklagenswert. Aber andere bringen genügend Klagen vor, Schwester – die Euren sind im Augenblick nicht notwendig.«
»Dennoch, Bruder, bin ich besorgt, und ich muss einfach darüber sprechen. Schaut nur, was aus ihm geworden ist. Einst dachte ich, ich würde ihn kennen. Nun ja. Jetzt aber hat es den Anschein, als hätte ich ihn überhaupt nicht gekannt.«
»Der Satan nimmt viele Gestalten an, Schwester. Er schleicht sich in die Welt, wo er auch nur die kleinste Ritze findet. Er wechselt die Gestalt, um durch die Öffnung zu passen, und dringt unbemerkt ein, außer wir sind ewig auf der Hut vor ihm.«
»Sind wir so wahrhaft blind, dass so ein … ein … Ding auf Erden wandeln kann, ohne dass wir es bemerken?«
»Dem Anschein nach sind wir es.«
»So viele haben sich beschwert, warum haben wir nicht zugehört?«
»Es waren vorwiegend arme Kinder, viele von ihnen schon so gut wie vergessen …«
»Sie waren nicht alle arm. Und einige hatten Eltern, die laut über ihren Verlust klagten.«
»Nicht laut genug, wie es aussieht.«
Ich erinnerte ihn nicht daran, dass auch seine Ohren anfangs diesen Klagen verschlossen waren und dass er mir nur widerstrebend gestattet hatte, dem nachzugehen, was ich gehört hatte. »Lieber Gott«, sagte ich nach kurzem Schweigen, »wie konnte dies alles nur geschehen?«
»Wahrscheinlich ist es eine Veränderung, die schleichend vonstatten ging und bis jetzt nicht erkannt wurde.« Er veränderte leicht seine Haltung auf der Bank, um die Steifheit zu vermeiden, die einsetzen würde, wenn er sich zu lange nicht bewegte. »Ich habe viel über die Natur des Bösen nachgedacht, denn Gott hat mich mit seiner Ausmerzung beauftragt. Ich muss gestehen, diese Aufgabe erschien mir immer unmöglich. Ich kämpfe täglich mit meiner Unzulänglichkeit.«
Er bewegte sich erneut, diesmal mit einem leisen Stöhnen. »Euch sagt diese Bank mehr zu als mir«, sagte er.
Für einen Augenblick vergaß ich meinen Kummer. »Gott hat mir die Leibesfülle geschenkt, die mir sie ertragen hilft.«
»Das habe ich bemerkt. Gott ist sehr großzügig mit seinen Geschenken.« Dann wurde sein Ausdruck wieder etwas ernster. »Aber wir dürfen die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass das Böse eins von Gottes größten Geschenken sein kann.«
Ich starrte ihn an. »Wie das?«
»Bedenkt seine vielen Formen: Kriege, Seuchen, das Beben der Erde, das Einstürzen des Himmels – in der Tat die Dunkelheit. Gott hat das Böse mit Ziel und Absicht in diese Welt gesetzt. Er wollte uns helfen, vermöge des Vergleichs zu erkennen, was wir als gut erachten sollen. Wir verabscheuen die Dunkelheit und feiern das Licht, weil wir begreifen, dass das eine das Böse darstellt und das andere das Gute. Aber Dunkelheit und Licht waren immer da, da Gott sie erschaffen hat, sind sie nichts anderes geworden als das, was sie immer waren. Sie wurden uns vielleicht nur schrittweise enthüllt, aber sie waren immer auf dieser Welt. Ich befürchte, Schwester, dass Gilles de Rais schon immer etwas Unheiliges an sich hatte und dass wir erst jetzt allmählich sein wahres Wesen erkennen.«
Er hatte Gedanken in Worte gefasst, die ich selbst nicht aussprechen konnte, als wüsste er, dass ich sie hatte – und dass sie mich vergiften würden, blieben sie unausgesprochen.
»Ich glaube, es wird noch mehr enthüllt«, sagte er dann leise.
In dem Augenblick begriff ich, dass er mehr wusste, als er mir sagte. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Schlechte Nachrichten sollten in kleinen Bissen verabreicht werden, damit sie den Hörer nicht völlig zerstören. Ich nahm einen neuen Apfel zur Hand und begann ihn zu schälen. »Die Zeit wird es zeigen, Eminenz, wie sie es schon immer getan hat.«
Ich bewegte das Messer, die Schale löste sich. Eine Weile sah er mir schweigend zu, dann sagte er: »Ich fürchte, wenn alles gesagt ist, werden wir viel mehr wissen, als wir eigentlich wissen wollten.«
Ich nickte. »Ich glaube, Ihr habt Recht«, erwiderte ich. Aber ach, wie sehr wünschte ich mir, er würde Unrecht haben.
Es dauerte noch drei Tage, bis ich mich dazu überwinden konnte, Eminenz die Frage zu stellen, die mich vergiftete. Ich konnte sie nicht länger zurückhalten.
»Ihr habt jene verhört, die ihm bei seinem Bösen geholfen haben, Poitou und Henriet.«
In dem Augenblick war er Kanzler und kurz angebunden, weil er mit vernachlässigten Staatsdingen beschäftigt war. »Das habe ich«, sagte er. Er schien verärgert über die
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